2015 standen sie schon einmal an dieser Stelle. Im Zuge der ersten Flüchtlingswelle hatten Verwaltung und Gemeinderat den Bau eines neuen Flüchtlingshauses in der Hilzinger Straße in Erwägung gezogen, weil die Gemeinde zu wenig Wohnraum für Asylsuchende hat. Die Bürger kamen zahlreich, um sich über das Projekt zu informieren. Man wolle die Neuankömmlinge auf die gesamte Gemeinde verteilen und nicht geballt an einem Standort unterbringen, war schon damals die Argumentation. Doch es regte sich heftiger Widerstand aus der Nachbarschaft gegen dieses Neubauvorhaben. Dass es dann doch nicht zum Bau kam, lag am abflauenden Flüchtlingsstrom.
Seit dem Beginn des Ukrainekrieges hat sich die Situation jedoch wieder verschärft. Noch in diesem Jahr rechnet der Landkreis Konstanz mit 1850 Personen, die auf die Gemeinden verteilt werden müssen. Gottmadingen liegt mit 70 Plätzen für Geflüchtete im Soll. Bis Ende 2023 werde die Gemeinde laut Verteilschlüssel sogar 144 Plätze für Menschen auf der Flucht vor Krieg und Diktatur zur Verfügung stellen müssen, erklärt Bürgermeister Michael Klinger.
Pläne aus der Schublade gezogen
Wie bei allen brisanten Themen hatte er die Bürger zum Dorfgespräch in die Hilzinger Straße eingeladen, um Rede und Antwort zu stehen. Stadtplanerin Olga Gozdzik, Hauptamtsleiterin Martina Stoffel und Alexander Kopp vom Bauamt entrollten im Nieselregen die Pläne von Hubert Riesterer. Acht Jahre haben sie in den Schubladen des Bauamtes geschlummert, um nun doch noch umgesetzt zu werden.

Vorausgesetzt, der Gemeinderat stimmt dem Bau des Flüchtlingshauses in seiner nächsten Sitzung zu. Es spricht wenig für eine Ablehnung. Im Aussschuss für Technik und Umwelt (ATU) haben die Räte das Projekt bereits gebilligt.
Neues Zuhause für 40 Menschen
Was ist geplant? Direkt neben dem Mehrfamilienhaus der Anneliese-Bilger-Stiftung soll auf der grünen Wiese ein weiterer Kubus mit neun Wohnungen für geflüchtete Menschen entstehen. Dazu gibt es zehn Stellplätze. Insgesamt soll in dem Haus auf 630 Quadratmetern Wohnfläche Platz für rund 40 Personen geschaffen werden. Außer der Bodenplatte aus Beton soll das Gebäude in Holz-Rahmen-Bauweise realisiert werden.
Nach aktuellen Berechnungen werden die Kosten mit 3,1 Millionen Euro veranschlagt. „Das ist ein Quadratmeterpreis von rund 5000 Euro“, rechnet Michael Klinger vor. „Pro Quadratmeter Wohnfläche gibt es einen Zuschuss vom Land Baden-Württemberg in Höhe von 1000 Euro. Die restlichen 4000 Euro pro Quadratmeter muss die Gemeinde tragen.“ Soweit die technischen Fakten.
Große Sorge um den sozialen Frieden
Die Bürger, vor allem die Nachbarn, interessierten jedoch ganz andere Fragen. Sie sorgen sich um den sozialen Frieden, weil sie eine Überfremdung befürchten. Ob es keine Alternativen gebe, wollten sie wissen. Georg Ruf beklagte, dass durch den Neubau wieder ein Teil von Gottmadingens grüner Lunge verschwinden werde. Warum man für die temporäre Unterbringung der Geflüchteten nicht die Häuser der Wohnbaugenossenschaft habe ertüchtigen können, die jetzt abgerissen werden. Die Häuser hätten ihre Lebensdauer überschritten, konterte Klinger.
Was den Flächenverbrauch angehe, so bemühe sich die Gemeinde mit innerörtlicher Verdichtung um Ressourcenschonung. Künftig werde man sogar mehr in die Höhe bauen, sagte Klinger und bezog sich dabei auf die Entwicklung des Quartiers 2020.
Bedenken wegen Finanzen und Fremden
Während sich Herbert Buchholz um die Gemeindefinanzen Sorgen macht und wissen wollte, ob nicht die Anneliese-Bilger-Stiftung das Flüchtlingshaus hätte bauen können, holte Karl Reischmann zum Rundumschlag aus: „Es hat geheißen, dass wir uns nach dem Neubau der Eichendorff-Realschule nichts mehr leisten können, und jetzt legen wir 2,5 Millionen Euro für ein Haus für unsere Neuankömmlinge hin. Nix funktioniert: keine Post, zu wenig Hausärzte.“
Wilfried Tesche sprang ihm bei und verlangte mehr Widerspruch der Bürgermeister gegen die Verteilung immer neuer Menschen auf die Gemeinden. Er sei komplett gegen das Flüchtlingshaus. „Was ist, wenn alle Bürgermeister einmal Nein sagen?“, fragte er. „Die Menschen überfordern uns.“
Es zeigt sich eine Zwei-Klassen-Haltung
Den Vorwurf wollte Klinger nicht auf sich sitzen lassen. Die Bürgermeister hätten die Situation in den Gemeinden gegenüber dem Bund immer wieder verdeutlicht. Ohne Erfolg. „Wenn wir es einfach drauf ankommen lassen, stehen die Menschen vor dem Rathaus“, sagte Klinger. „Dann müssen wir öffentliche Räume wie die Fahr-Kantine zu Notunterkünften umbauen.“ Wenn man sich kooperativ zeige, gebe es vonseiten des Landratsamtes eine gewisse Gesprächsbereitschaft, was die Belegung angeht. Doch Einfluss habe die Gemeinde nicht wirklich.
Im Zuge der Diskussion zeigte sich eine Zwei-Klassen-Haltung. Ukrainische Flüchtlinge sind in Gottmadingen offenbar eher willkommen als allein reisende Syrer oder Menschen aus Afghanistan. Doch es gab im Publikum auch Stimmen gegen eine solche Klassifizierung. Eine Teilnehmerin warb für mehr Menschlichkeit: „Ich fände es schön, wenn wir die Menschen nicht nach ihrer Herkunft beurteilen, sondern sehen, dass sie ein neues Zuhause suchen“, sagte sie. Eine Frau aus Kolumbien forderte mehr Respekt von den Diskussionsteilnehmern gegenüber Neubürgern.
Zahlreiche Personen konnten bisher nach aufwendiger Vermittlung durch den Flüchtlingsbeauftragten Martin Rauwolf in privaten Wohnungen untergebracht werden. Das Landratsamt nutzt die alte Eichendorff-Schule bis Mitte 2024 als Notunterkunft für rund 200 Geflüchtete. Das verschaffe der Gemeinde etwas Luft bei der Neubauplanung, sagte Klinger. Aber die Schule soll ja abgerissen werden. Eine Container- oder Zeltlösung vernichte noch mehr Geld. Das Flüchtlingshaus könne später als sozialer Wohnraum genutzt werden, wenn die Geflüchteten in ihre Heimat zurückkehrten.
Stein des Anstoßes ist für die Anlieger der kleine Spielplatz, der zum Treff- und Konfliktpunkt der Neubürger werden könnte. Die Hilzinger Straße stelle darüber hinaus eine Gefahrenquelle für die Kinder dar. Nach einer Stunde engagierter Diskussion beendete Michael Klinger das Dorfgespräch in dem Wissen, nicht alle Sorgen ausgeräumt zu haben.