Neugierig wird der Trainingsneuling gemustert. Die falschen Schuhe hat er an, natürlich weiße. Das wird er bedauern. Aber ich werde an diesem Abend in der Emmersberghalle in Schaffhausen freundschaftlich empfangen. Jeder der etwa 15 Jugendlichen begrüßt mich per Handschlag. Die Nervosität schwindet, bis eine raue Stimme durch die Halle schallt: „Ab in die Hosen.“ Und dann geht alles ganz schnell. Hosen an, Gürtel festgezurrt, ab ins Quadrat aus Sägemehl und plötzlich bin ich einer von ihnen: ein Schwinger.

Es ist ein Zweikampf, Mann gegen Mann. Beide versuchen, sich gegenseitig auf den Boden zu bringen: Schwingen ist ein äußerst populärer Sport bei unseren Nachbarn in der Schweiz. Am zweiten Augustwochenende trafen sich fast 500 Schwinger kurz hinter der Schweizer Grenze in Ramsen – Grund genug, sich diesen Sport mal genauer anzusehen.

Daumen hoch, vor dem Trainingskampf: Jeremy Vollenweider (links) und SÜDKURIER-Redakteur Matthias Güntert in voller Schwingermontur. Die ...
Daumen hoch, vor dem Trainingskampf: Jeremy Vollenweider (links) und SÜDKURIER-Redakteur Matthias Güntert in voller Schwingermontur. Die Zwilch-Hosen sitzen. | Bild: Matthias Güntert

„Es ist ein bisschen so wie Ringen im Sägemehl. Ziel ist es, den Gegner mit dem Schwingergriff an der Hose auf den Rücken zu legen“, erklärt Adi Bührer. Er ist Jugendleiter beim Schaffhauser Kantonalen Schwingerverband. Unverkennbare Merkmale eines Schwingers seien das Hemd und die typische Hose, an welcher im Kampf gegenseitig gezogen werde.

Mit Kraft, Ausdauer und ganz viel Technik

Die Schwingerhosen in Reih und Glied. Sie bestehen aus einem Ledergürtel und Zwilch.
Die Schwingerhosen in Reih und Glied. Sie bestehen aus einem Ledergürtel und Zwilch. | Bild: Matthias Güntert

Die Schwinger kommen bullig daher. Muskelbepackte Schwergewichte. Auch mein heutiger Trainingspartner sieht aus wie ein Schweizer Adonis. Jeremy Vollenweider ist ein Athlet, dicke Muskelberge an den Oberarmen, ein Nacken wie ein Stier und stramme Waden. „Ich kümmere mich heute um dich“, sagt Jeremy, schlägt mir freundschaftlich auf den Rücken und grinst mich verschmitzt an. Schlagartig kehrt meine Nervosität zurück.

Keine Chance gegen den Profi Video: Matthias Güntert

Jeremy Vollenweider ist 25 Jahre alt und schwingt seit 20 Jahren. „Ich habe mit dem Ringen angefangen“, erinnert er sich. Irgendwann sei er dann zum Schwingen gekommen. Für ihn sei der Sport auch von Kolleg- und Kameradschaft geprägt. Was ein Schwinger mitbringen muss? „Schwingen muss man wollen“, sagt Jeremy. Denn ein Schwinger müsse etwas vertragen, einstecken können und körperlich topfit sein. Dann fügt er lachend hinzu: „Und man muss Sägemehl vertragen.“

So schwingen die Profis Video: Matthias Güntert

Ein Durchgang bei den aktiven Schwingern dauert sechs Minuten. Der Gewinner muss drei Viertel vom Rücken des Gegners auf das Sägemehl drücken. „Das ist ein Vollkontaktsport, man spürt den Gegner immer“, sagt Jeremy Vollenweider. „Das sind extreme Kräfte, die auf den Körper und speziell auf die Knie wirken.“ Ausdauer und Kraft würden den Sport prägen, „der Rest ist Technik“.

Was er damit meint, wird nur wenige Minuten später deutlich. Bereits nach wenigen Sekunden liege ich kopfüber im Sägemehl. Geschultert, würde man im Ringen sagen. Meine linke Gesichtshälfte ist komplett mit Sägemehl bedeckt. Ich sehe aus wie ein paniertes Schnitzel.

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Aber dann wird deutlich, was Jeremy Vollenweider mit Kollegschaft meint. Dem Unterlegenen wird beim Aufstehen geholfen. Danach streicht mir der 25-Jährige über den Rücken – diese Geste hat Tradition. „Der Gewinner streicht dem Verlierer über den Rücken und streift ihm das Sägemehl ab. Das ist auch eine Respektbekundung“, erklärt der erfahrene Sportler.

Trainer Ernst Schläpfer gibt seinen Schützlingen Tipps.
Trainer Ernst Schläpfer gibt seinen Schützlingen Tipps. | Bild: Matthias Güntert

Zimperlich dürfen Schwinger nicht sein. Auch der Ton im Training ist rau. Mitten im Sägemehlquadrat steht Ernst Schläpfer. Er ist zweifacher Schwingerkönig, das ist in etwa so wie der Schweizer Meister. Er trainiert die Jugend in Schaffhausen. „Du drückst nur, du schwingst nicht“, ruft er. Der Profi zeigt den Nachwuchsschwingern, wie sie perfekt stehen, ihren Schwung ausnutzen und den Gegner auskontern. „Jetzt musst‘ ihn schon brechen“, ruft Schläpfer.

Lars (14 Jahre, links) und Anja (9 Jahre) sind durch ihre Familien zum Schwingen gekommen.
Lars (14 Jahre, links) und Anja (9 Jahre) sind durch ihre Familien zum Schwingen gekommen. | Bild: Matthias Güntert

Wie das Schwingen funktioniert, weiß auch die neunjährige Anja. Sie ist neun Jahre alt und das einzige Mädchen im Training. Für sie aber kein Problem, im Gegenteil: „Es ist voll gut, dass ich gegen Jungs schwingen darf.“ Über ihren großen Bruder sei sie zum Sport gekommen. „Ich bin mit dem Schwingen aufgewachsen“, sagt sie. Auch Lars (14 Jahre) ist mit Herzblut dabei. „Das Schwingen im Sägemehl macht mir einfach mega Spaß“, sagt er. Auch in seiner Familie sei Schwingen der Familiensport.

Fast gewonnen, oder? Video: Matthias Güntert

Beim Trainingsendspurt lassen langsam die Kräfte nach, die Finger sind spröde vom Halten am Schwingergurt. Viel zu holen war an diesem Abend nicht, Niederlage an Niederlage reiht sich an. Dann ist das Training zu Ende. Erschöpft sitze ich auf der Tribüne und versuche mir den Großteil des Sägemehls abzuklopfen – vergeblich.

Jan (10 Jahre) und Tim (11 Jahre) leeren das Sägemehl nach dem Training aus ihren Schuhen.
Jan (10 Jahre) und Tim (11 Jahre) leeren das Sägemehl nach dem Training aus ihren Schuhen. | Bild: Matthias Güntert

Und dann kommt wieder einer dieser Momente des Respekts: Alle Jungschwinger reichen mir die Hand zum Abschied. „Hat Spaß gemacht, oder? Kannst ja nächstes Mal wiederkommen“, sagt ein Junge. Und da wird deutlich: Die Schwinger gelten zwar im Schweizer Volksmund als die Bösen, ein sehr guter Schwinger wird sogar als ein „ganz Böser“ bezeichnet. Doch die Schaffhauser Schwinger sind ziemlich umgänglich – außer in den sechs Minuten im Sägemehlring, die sind beinhart.