Vor Kurzem hatte ich mal Hitzewallungen, die weder hormonell noch durch das Wetter erklärbar waren. „Kein Wunder“, grinste ein Freund. „Es ist ja auch die heiße Wahlkampfphase.“ Guter Witz und ja, es stimmt. Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Bundestagswahl und ich hänge mich phasenweise ganz schön rein. Obwohl wir in unserer Familie schon drüber nachgedacht haben, gar nicht mehr zur Wahl zu gehen. Unsere Meinungen gehen nämlich oft ziemlich auseinander und im Spaß sagen wir, dass wir uns sowieso gegenseitig an der Wahlurne neutralisieren. Am Familientisch, wo früher die wildesten Koalitionen diskutiert wurden, ist es, seit die Kinder ausgezogen sind, ruhiger geworden. Aber als wir uns mit Freunden zu einer politischen Runde trafen, wurde es doch wieder ganz schön lebhaft.
Da kamen wirklich gute Argumente, auch Kritik, verbunden mit Forderungen. Und wie schon so oft in den letzten Wochen war ich baff, wie gut informiert die Menschen sind und wie viele tatsächlich die Wahlprogramme (verschiedener!) Parteien gründlich gelesen haben.
Auch bei Politik gilt: Wir sind Gegner, aber keine Feinde
An diesem Abend beobachtete ich ein Phänomen, das ich bei vielen weiteren Gesprächen auch schon vorher bemerkt hatte: Es wird wieder mehr mit-einander gesprochen und weniger über-einander. Streit darf, ja muss sein – aber die leeren Dampfparolen verfangen nicht mehr so leicht. Man ist vorsichtiger geworden in der Wortwahl – und damit meine ich nicht die vielbeschworene Cancel-Kultur, sondern die Fähigkeit, Klartext zu reden und trotzdem Respekt vor dem anderen zu haben. Wie heißt es? Wir sind Gegner, aber keine Feinde. Außerdem spüre ich bei vielen Menschen, mit denen ich sprach, ein ehrliches Bedürfnis nach gesellschaftlicher Veränderung – und höre so viele konkrete Ideen wie schon lange nicht mehr.
Was ist die wirkliche Zumutung: Veränderung oder zu Tode bürokratisieren?
Und bei den Politikern? Da ergibt sich ein gemischtes Bild. Von Fakten bis Parolen wird alles geboten. Aber in allem sind sie sich einig: Alles soll sozialverträglich und ohne große Zumutungen stattfinden. Als friedlicher und zugegebenermaßen auch ein bisschen fauler Mensch unterschreibe ich das gern. Aber ist nicht weiteres Abwarten und Projekte zu Tode bürokratisieren, die wirkliche Zumutung? Und echt jetzt: Wir vom Wahlvolk sind sowas von sozial verträglich – wir streiten konstruktiv, vertragen uns und suchen pragmatisch nach Lösungen (ok, ich merke, das ist jetzt auch fast schon eine Parole, aber mehr Platz hat diese Kolumne leider nicht).
Was ich sagen will: Sozialverträglichkeit hat mit Geld zu tun. Aber nicht nur. Sondern damit, dass wir uns zusammenraufen und als Gesellschaft nicht permanent gegenseitig blockieren. Ich finde, wir Bürger haben da ganz schön Fortschritte gemacht in letzter Zeit. Da könnten sich die Politiker gern eine Scheibe abschneiden. Davon, dass wir sozial sind. Und verträglich.