Es ist nicht das erste Mal, dass Jesus eine Weltmacht zu Fall bringt. Diesmal wirkt sein Wort in der Kirche St. Martin in Wollmatingen. Es ist Sonntag, 9 Uhr, und Marcus Maria Gut beginnt sein Coming-out. Der Priester benötigt dafür einigen Anlauf: Zunächst im Gesang (“Wir erfinden neue Götter“, aber „Gott allein ist letzter Halt“), vor allem aber mit dem bekannten Zitat aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther. Was bleibt sind Glaube, Hoffnung, Liebe, aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Dann kommt‘s raus, Marcus Maria Gut bekennt sich zur Homosexualität.
Sechs Tage zuvor, der Priester schaut fern. Auf ARD läuft eine Reportage über Menschen, die katholisch sind und queer. Die Geschichte eines lesbischen Paares bewegt Marcus Maria Gut ganz besonders. Die beiden Frauen stehen in Diensten der katholischen Kirche, verstecken während 40 Jahren ihre Liebe, nehmen dafür zum Beispiel weite Fahrwege in Kauf. Die Selbstverleugnung reicht über die Pensionierung hinaus, da das Paar Repressalien ihres ehemaligen Arbeitgebers befürchtet. Sie bekennen sich erst nach der juristischen Abklärung – demnach stehen sie auf der sicheren Seite.
Diese Liebe soll Sünde sein? 40 Jahre habe sie gehalten, trotz des Drucks der Amtskirche. Wie nur kann die katholische Kirche „normalen Menschen die Liebe absprechen“, fragt Marcus Maria Gut, wie nur kann sie diese Liebe als krank und abartig einstufen?
Das Segnungsverbot für gleichgeschlechtliche Paare ist nach wie vor in Kraft, ergänzt der 55-Jährige. Demütigend sei das, weshalb er sich nicht daran halten werde. Und er entschuldigt sich vor der Gemeinde. Noch stehe es so nicht auf der Homepage, aber das werde demnächst der Fall sein.
Fundamentale Kritik an der Amtskirche
Dann sagt er, was für ihn Sünde ist. Er prangert die Fälle des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche als Akte der Unterdrückung an, und Sünde seien auch die Lügereien und Vertuschungsversuche. Unsäglich sind für ihn im Übrigen die Vermischung von Homosexualität und Pädophilie. Wenn queere Menschen sich lieben, dann sei das eben so wie Gott sie schuf, wozu die Kirche statt Ablehnung, Zurechtweisung und Belehrung mit Zuspruch zu reagieren habe.
Etwas anderes sei der Missbrauch von Macht, wie er sich in der katholischen Kirche zugetragen habe. Wobei Marcus Maria Gut sich vorstellen kann, dass es sich beim bisherigen Wissensstand nur um die Spitze des Eisberges handelt. „Manche Diözesen haben mit der Missbrauchsaufklärung noch nicht einmal begonnen.“
Aber auch dort, wo man schon Vieles weiß, stimmt für den Priester der Weg noch lange nicht. Das Ausweichen und die Verzögerung zumal von Bischöfen bis hin zum emeritierten Papst Benedikt XVI. will der Mann an der kirchlichen Basis nicht länger hinnehmen. Verlogenheit und Feigheit wirft er ihnen vor und will dabei selbst nicht mehr mitmachen. „Ich gehöre auch dazu“, so sein Bekenntnis zur Homosexualität. Keine Frage: Hier spricht jemand in persona christi, von dem sich die Amtskirche weit entfernt hat.
Mit fremden Federn schmücken will sich Marcus Maria Gut dabei aber offensichtlich nicht. Jene TV-Reportage und die 125 Menschen, die sich gleichermaßen zum katholischen Glauben und ihrer queeren Liebe bekennen, haben ihm Mut gemacht. In seiner Rede räumt er ferner ein, dass er sich schlau gemacht hat über etwaige Konsequenzen seines Tuns. Dass das Erzbistum hinter ihm steht, hat ihm die Kraft zum Coming-out vor der Gemeinde gegeben.
Beifall von Besuchern des Gottesdienstes
Diese tut am Sonntag das Ihre, um Marcus Maria Gut den Rücken zu stärken. Rund 30 Besucher sind zum Gottesdienst in die St. Martin-Kirche gekommen, und sie quittieren das Bekenntnis des Seelsorgers mit Beifall. Es kann zugleich als Unterstützung für den Aufruf des Priesters zu einer von innen heraus gestalteten Erneuerung der katholischen Kirche verstanden werden. An dieser Möglichkeit hat der Priester den Glauben noch nicht verloren – er will sein Kirchenamt weiter ausüben.