Am Anfang des Prozesses versuchten sie noch, ihre Taten zu beschönigen. Doch dann merkten sie schnell, dass sie sich damit selbst ins Knie geschossen hatten. Am Ende verurteilte das Jugendschöffengericht unter Vorsitz von Amtsgerichtsdirektor Franz Klaiber zwei der drei Schläger, die das Gesicht des Wollmatingers Marco Boxler zertrümmert hatten, zu drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Der dritte und jüngste erhielt zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung, muss für drei Wochen in den Jugendarrest und 150 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten.

Ein „ganz mieser Versuch“

Das Trio aus dem Hegau – zwei Brüder und ihr Cousin, die mit ihrer Großfamilie unter einem Dach leben – hatte zunächst behauptet, von Boxler in jener Herbstnacht 2022 nicht nur angesprochen worden zu sein. Vielmehr soll der frühere Ringer, der kurz zuvor eine Bandscheiben-Operation überstanden hatte, zwei der kräftigen Männer auf Brusthöhe in den Klammergriff genommen und angehoben haben – wogegen man sich gewehrt habe. Für Richter Klaiber ein „ganz mieser Versuch“. Man müsse dem Opfer in der Hauptverhandlung seine Würde zurückgeben, die man ihm durch die Tat genommen hat, las er ihnen in der Urteilsbegründung die Leviten. Diese Chance hätten sie verpasst.

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Dass sie 15.000 Euro Schmerzensgeld an den 34-jährigen Programmierer und weitere 3000 Euro an das zweite Opfer und dessen Freundin gezahlt haben, sei schön und gut, so Klaiber. „Aber es ist nur Geld. Das zahlt der ‚Baba‘ beziehungsweise der Onkel.“

Doch was genau war nun in der Nacht zum 23. Oktober passiert? Zuerst, so wird im Strafprozess deutlich, feierte der 19-jährige jüngste Angeklagte gemeinsam mit einem Freund und ihren beiden Freundinnen in der Diskothek Grey im Konstanzer Industriegebiet. Später kamen sein damals 24-jähriger Bruder und der 28 Jahre alte Cousin dazu – beide hatten nach eigenen Angaben schon reichlich vorgeglüht.

Es begann mit Beleidigungen

Aus dem Spaß, den die Sinti mit dem gemeinsamen Bekannten hatten, wurde dann schnell Ernst. Und es begann mit Beleidigungen, die zunächst wohl noch scherzhaft gemeint waren, dann aber übel genommen wurden. Der 28-Jährige bezeichnete den Freund seines jüngeren Cousins als „jenischen Schleim“ und schubste ihn herum. Irgendwann standen die Beiden in der Raucherlounge Kopf an Kopf, der spätere Täter packte das Opfer am Hals, das wehrte sich mit einer Schelle.

Die Angeklagten, heute 25, 28 und 19 Jahre alt (von links), mit ihren Anwälten Wolfgang Hoppe, Sylvester Krämer und Matthias Biskupek ...
Die Angeklagten, heute 25, 28 und 19 Jahre alt (von links), mit ihren Anwälten Wolfgang Hoppe, Sylvester Krämer und Matthias Biskupek (ebenfalls von links). Die Täter entschuldigten sich während des Prozesses mehrfach für ihre Taten, versuchten sie aber zunächst zu beschönigen. | Bild: Sven Frommhold

Draußen eskalierte die Angelegenheit dann. Der Bekannte wollte mit seinem Mädchen das Weite suchen, doch noch ehe er sein Auto öffnen konnte, hatte ihn der Konkurrent gepackt. Am Ende lag er langgestreckt und bewusstlos am Boden – seine Freundin hatte sich schützend über seinen Kopf geworfen –, während das Trio gemeinsam auf ihn eintrat. Der Jüngste rief „Tretet dem Jenischen den Kopf weg!“ In der Verhandlung sollte er acht Monate später erzählen, das Opfer sei sein bester Freund gewesen.

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Die Drei ließen erst von ihm ab, als ein Mann hinzukam und sich einmischte. Die junge Frau und ihr derangierter Freund nutzten die Gelegenheit zu verschwinden. Als sie nur Minuten später wegen des ramponierten Äußeren des jungen Mannes von Polizisten angesprochen wurden, sagten sie nichts zu dem, was sich gerade in einer Einfahrt an der Max-Stromeyer-Straße abspielte.

„Ich war so froh, dass wir da weg waren. Ich wollte nur noch raus aus Konstanz. Das war falsch von mir“, erklärte die 20-Jährige auf Nachfrage im Zeugenstand, fand aber damit bei Gerichtsdirektor Klaiber keine Gnade. „Wir haben hier einen Menschen, der Zivilcourage gezeigt hat, und wir haben andere, die selbst Opfer geworden sind, und die geht das nichts an. Das kümmert die einen feuchten Dreck“, übte er harsche Kritik.

Aggression richtet sich gegen Helfer

Der Mensch mit der Zivilcourage war Marco Boxler. Er kam von einem Junggesellenabschied, als er auf den Tumult aufmerksam wurde. Aus Angst, die drei Angreifer könnten den am Boden liegenden Mann totschlagen, stellte er sein Fahrrad ab und sprach die Täter an. Der habe doch jetzt genug, sie sollten ihn in Ruhe lassen, sagte der Wollmatinger aus zwei Meter Entfernung – dann begann das schlimmste Gewaltkapitel dieser Nacht.

Zuerst wandte sich der 24-Jährige an Boxler und fragte ihn, was er wolle. Dann versetzte der 130 Kilogramm schwere Ex-Boxer dem Konstanzer einen gezielten Faustschlag. Der Getroffene sank auf die Knie und bekam das Knie des anderen ins Gesicht. Die anderen Beiden sprangen herzu, traten und schlugen ebenfalls auf ihn ein, während sich Boxler wie ein Igel zusammenrollte und sie anflehte, nicht gegen den gerade operierten Rücken zu treten.

Marco Boxler einige Tage nach seiner Gesichts-OP in der Unisto-Einfahrt, wo er zusammengetreten worden war.
Marco Boxler einige Tage nach seiner Gesichts-OP in der Unisto-Einfahrt, wo er zusammengetreten worden war. | Bild: Sven Frommhold

Der Wollmatinger erlitt mehrere Gesichtsfrakturen – die Trümmer mussten wieder zusammengesetzt und mit Platten fixiert werden. Auch die Nase war gebrochen; bis heute hat er Probleme, sich lange zu konzentrieren und zu schlafen. Er leidet häufig unter Drehschwindel – wenn er die Augen schließt, dreht sich alles. Sein Rücken macht ebenfalls Probleme. Und wenn er heute noch einmal in dieselbe Situation käme? „Ich würde von etwas weiter weg rufen, dass sie aufhören und von mir wegbleiben sollen.“

Diese Haltung nötigte auch Verteidiger Sylvester Krämer Respekt ab. Es sei „berührend und beeindruckend“, was Boxler im Prozess geschildert habe. Ebenso wie sein Kollege Wolfgang Hoppe, die um Bewährungsstrafen für ihre 28 und heute 25 Jahre alten Mandanten gebeten hatten, behielt er sich Rechtsmittel gegen das Urteil vor. Dagegen ist der Richterspruch gegen den Jüngsten bereits rechtskräftig. Der junge Mann hatte schon kurz nach der Tat ein mehrmonatiges Anti-Aggressionstraining aufgenommen und es auch abgeschlossen.

Staatsanwältin Patricia Müller hatte für den 25-jährigen Angeklagten sogar vier Jahre Gefängnis gefordert – im Prinzip die höchste ...
Staatsanwältin Patricia Müller hatte für den 25-jährigen Angeklagten sogar vier Jahre Gefängnis gefordert – im Prinzip die höchste Strafe, die das Amtsgericht kennt. | Bild: Sven Frommhold

Die Haftbefehle gegen die beiden Haupttäter, die sich wie der dritte ein paar Tage nach der Tat selbst gestellt hatten, bleiben wegen der Einbindung in die Großfamilie vorerst außer Vollzug: Das Gericht verneinte eine Fluchtgefahr. Sie müssen sich aber weiterhin wöchentlich bei der Polizei melden.

Was sie in jener Oktobernacht angerichtet hatten, das ging nur „sehr knapp an versuchter Tötung vorbei“, sagte Staatsanwältin Patricia Müller in ihrem emotionalen Plädoyer. Dann wäre der Fall wegen der höheren Straferwartung wohl nicht beim Amts-, sondern beim Landgericht gelandet. Und die Lügen zu Beginn wären womöglich noch teurer geworden.