Wer mit Anastasia Sommerfeld in Kontakt treten will, muss auf Schnörkel verzichten. Ihre Antworten per Whatsapp fallen knapp aus, 20 Sekunden Sprachnachricht – oder eine dürre Zeile. In der meist das Wesentliche gesagt ist. Kein Emoji-Schnick-Schnack, keine allerliebsten Grüße. Wenn man ihre Aufmerksamkeit länger fesseln möchte, muss man es geschickt anstellen.

Nachts gegen 23 Uhr ist ein guter Zeitpunkt, da schläft ein Kind, das andere noch nicht – und die Termine drängen nicht so wie tagsüber. Die 33-Jährige hat in diesen Tagen wenig Zeit. Vor dem 24. Februar war sie Mutter zweier Töchter, fünf und zwei Jahre alt, und half ihrem Mann, der einen Handwerksbetrieb leitet, im Büro. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine gönnt sie sich kaum eine Minute Freizeit.

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Am 24. Februar beginnt der Krieg

Vom Kriegsbeginn erfährt die Konstanzerin am Morgen des 24. Februar in den Nachrichten. Sie versucht, Verwandte in Vinnica in der Ukraine zu erreichen. Anastasia Sommerfeld ist in Riga geboren, in Rostow am Don aufgewachsen, jedenfalls, bis zum Alter von neun Jahren. Dann siedeln ihre Eltern als Russlanddeutsche mit ihr nach Deutschland über.

Es dauerte eine Weile, aber schließlich erreicht sie die Verwandten. Diese versichern, dass sie in Sicherheit seien. Sie berichten aber auch von den Zuständen an der Grenze zu Polen: Dort gibt es keine Decken, kein Wasser, keine Versorgung für die vielen Flüchtenden. Anastasia bietet an, dass ihre Telefonnummer weitergegeben werden könne. Sie werde versuchen, zu helfen.

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Helfer mit Flüchtlingen vernetzen

So fängt alles an. In den nächsten Stunden des ersten Kriegstages wird sie oft angerufen und vernetzt Menschen miteinander: Helfer, die von Berlin oder Dresden mit Decken, Essen und Wasser losfahren, und ukrainische Flüchtlinge, die orientierungslos an einer Grenze stehen. Alles läuft über die sozialen Netzwerke, ein bisschen Facebook, ein bisschen Telegram. „Für mich war die Vorstellung schrecklich, dass dort kleine Kinder mit ihrer Mama stehen und sich vom Papa verabschieden müssen“, sagt sie.

In den folgenden Wochen stellt sie mit Hilfe eines anderen Helfers aus Ravensburg einen privaten Hilfstransport zusammen. Mit ihm und einigen Konstanzern befüllen sie vier große Fahrzeuge mit Hilfsgütern und fahren an die ukrainisch-polnische Grenze. Dort übernimmt eine ukrainische Hilfsorganisation die Güter.

Vom Wohnraum bis zur Behördenbegleitung

So geht es weiter. Anastasia holt Ukrainerinnen nach Konstanz, kümmert sich über private Netzwerke um Wohnraum. Sie sucht und findet Sponsoren, macht Termine bei Ärzten aus, kümmert sich um einen Mann mit einer Kriegsverletzung, übersetzt. Man trifft sie in der Stadt umringt von „ihren Mädels“, einer Gruppe Ukrainerinnen, mit denen sie gesammelt zur Bank geht, damit sie sich Konten einrichten können.

Warum macht Anastasia Sommerfeld das? Und warum macht sie weiter, während etliche schon längst zum Alltag zurückkehrten? Krieg lehne sie ab, antwortet die Helferin. Sie könne es schlecht ertragen, wenn Unschuldige stürben. Kinder zumal, die mit der Politik nichts zu tun hätten.

Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn ihre fünfjährige Tochter mit ihr fliehen und den Schrecken des Krieges bewusst erleben müsste. Und noch etwas eint sie mit den jetzt Flüchtenden: Sommerfeld weiß, wie es ist, wenn man sich fremd fühlt, eine Sprache nicht kann und aufgefordert wird, sich zu integrieren.

Auch eine Initiative von Anastasia Sommerfeld: Anatolij und Vladlena Chynko organisieren die Kinderbetreuung beim Ukraine-Cafe.
Auch eine Initiative von Anastasia Sommerfeld: Anatolij und Vladlena Chynko organisieren die Kinderbetreuung beim Ukraine-Cafe. | Bild: Hanser, Oliver

Kindheit in zwei Staaten

1998 kam sie mit neun Jahren nach Augsburg und lebte zunächst mit ihren Eltern in einem Übergangslager für Russlanddeutsche. Sie lernte Deutsch, ging zur Schule, integrierte sich, zog als Erwachsene nach Konstanz. Wohin sie gehört, weiß sie bis heute nicht genau.

„Russland ist meine Heimat, ich hatte dort eine schöne Kindheit – und meine ukrainische Urgroßmutter hat mich betreut.“ Inzwischen, im Jahr 2022, traue sie sich kaum noch zu äußern, dass sie aus Russland stamme. Es fühle sich falsch an, sich an ihre Heimat zu erinnern.

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Dass es „falsch“ ist, aus Russland zu sein, bekommt sie zu hören. Im Chat der Telegram-Gruppen wird sie von fremden Ukrainern ultimativ aufgefordert, ihre Nationalität zu nennen. Wird mit abwertenden Begriffen für Russen belegt. Dabei hat sie ausschließlich einen deutschen Pass. Als sie mit „ihren Mädels“ in Konstanz unterwegs ist, bleibt eine unbeteiligte Ukrainerin stehen und fragt entsetzt: „Ist sie etwa Russin?“

Bei einer Veranstaltung, bei der sie offiziell als Dolmetscherin geladen war, sei sie von einigen Personen abgedrängt worden, die eine Übersetzung ins Ukrainische statt ins Russische fordern, berichtet sie. In den ersten Kriegswochen sei ihr Mann von Bekannten angesprochen und nach ihrer Nationalität gefragt worden. Vorher habe das nie eine Rolle gespielt.

„Schnell und scharfsinnig“

Jelena Nikitina ist im März aus Kiew nach Konstanz gekommen. „Die Energie, die Anastasia mitbringt, ist phänomenal“, sagt sie über die 33-Jährige. „Sie ist schnell, scharfsinnig und mitfühlend“. Manchmal komme sie zur Notunterkunft und habe vom eigenen Geld eine ganze Palette Lebensmittel eingekauft, um sie an die Bewohner zu verteilen – während andere Helfer noch diskutierten.

„Ihre große Stärke ist ihre Impulsivität“, sagt Nikitina – gleichzeitig vielleicht auch ihre Schwäche. Für überlegtes, langsameres Handeln von Behörden hat sie wenig Verständnis. Sie geht ihren eigenen Weg, ob er gefällt oder nicht.

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Nachts um 22.45 Uhr leuchtet der Whatsapp-Chat auf. Anastasia Sommerfeld schickt einige Bilder, die die Hilfstransporte dokumentieren, die sie damals im April organisierte. Sie sei selbst ganz erstaunt, was sie in diesen Monaten alles geschafft hat. Dann kommen doch ein paar Emojis. Und einige beunruhigte Gedanken. Ob es weitere Anfeindungen geben werde? Ob ehrenamtliche Helfer auch ohne das Dach einer Hilfsorganisation vom Landratsamt akzeptiert würden?

Dann wird es wieder geschäftlich: Es fehlt noch eine Wohnung für eine Familie, ein Mann braucht Begleitung zum Arzt. Nicht jedes Problem kann am späten Abend gelöst werden. Sie wird warten müssen, bis Konstanz am nächsten Morgen wieder aufwacht. Das fällt ihr schwer.