Der Krieg ist kein Unfall. Michael Henrich kennt den Unterschied, insbesondere wenn es um die Auswirkungen auf die Seele geht. Als Psychotherapeut und Facharzt für die Behandlung von Traumata mit 20-jähriger Praxiserfahrung veranschlagt er die Quote posttraumatischer Belastungsstörungen bei Unfällen bei etwa einem Prozent. Bei Kriegserlebnissen aber beherrscht der Furor die Menschen ungleich stärker: 40 Prozent haben demnach mit den seelischen Verletzungen zu kämpfen.
Der Arzt und seine Helfer im neu gegründeten Verein Ukraine Hilfe Konstanz wissen somit, welche gewaltige Aufgabe sie sich vorgenommen haben. Die aktuelle Zahl der in der Stadt registrierten Flüchtlinge aus der Ukraine beläuft sich auf zirka 700, hinzu kommt eine nicht bestimmbare Zahl weiterer Personen, die privat untergekommen sind und sich noch nicht gemeldet haben. Bei 40 Prozent kann somit von mindestens 280 Fällen mit posttraumatischen Belastungsstörungen ausgegangen werden.
Selbst bei der Beschränkung auf Patienten mit schwersten Schäden und Folgen wie der Ausbildung von Psychosen sieht die Statistik nicht wirklich besser aus. Laut Michael Henrich sind davon zehn bis 15 Prozent der Menschen mit Kriegserlebnissen betroffen. Da der Verein seinen Aktionsradius zudem im gesamten Landkreis sieht, verbleibt das Hilfsangebot des Vereins im Bereich einer Herkulesarbeit. Auch hierzu die aktuelle Zahl: Nach Angaben des Landratsamtes sind rund 2250 Flüchtlinge aus der Ukraine behördlich registriert.
Ärzte werden von Dolmetschern bei ihrer Arbeit unterstützt
Klar ist, dass ein Arzt allein die Hilfe nicht zu leisten vermag. Michael Henrich stehen zwei Kolleginnen zur Seite, die wie er selbst zunächst für sechs bis neun Monate die Behandlungen von traumatisierten Kriegsflüchtlingen ehrenamtlich anbieten werden. Und sie können sich auch nur um einen Teil des tatsächlichen Bedarfs kümmern. Die Behandlungen beginnen mit Einzelsitzungen und werden dann in Gruppen fortgesetzt. Die Einbettung in eine Vereinsstruktur hat dabei den Vorteil, dass den Ärzten Übersetzer zur Verfügung stehen.
Letztere sind damit nicht weniger gefordert als die Ärzte, zumal sie zusätzlich Aufgaben wie die Begleitung der Flüchtlinge bei Behördengängen und generell behilflich bei der Integration in die Besonderheiten der deutschen Zivilgesellschaft sein sollen. So soll es beispielsweise einen regelmäßigen Kinder- und Muttertreff in der Stadtbibliothek geben. Laut Bibliotheksleiterin Ulrike Horn können dabei bis zu zehn Kindern unter pädagogischer Betreuung und mit Unterstützung von Übersetzern alle zwei Wochen spielen, malen oder in Büchern stöbern. Für die Mütter werde zeitgleich ein Gesprächskreis eingerichtet.
Konstanz plant Partnerschaft mit einer Stadt in der Ukraine
Parallel zu diesen Aktivitäten soll über den Verein ein Netzwerk von ukrainisch-sprachigen Übersetzern und Begleitpersonen aufgebaut werden. Der Stadtverwaltung Konstanz kann das nur recht sein, da die Mitarbeiter des Rathauses ohne zivilgesellschaftliche Unterstützung die aus den Kriegsfolgen sich ergebenden Aufgaben allein nicht meistern kann. Martin Schröpel als Beauftragter für Bürgerbeteiligung und Engagement setzt dabei auch Hoffnungen auf die Ambitionen des Vereins für die Unterstützung von Projekten in der Ukraine. Das ließe sich gut mit dem städtischen Vorhaben zur Gründung einer Städtepartnerschaft kombinieren.