Es ist ein Telefonat fürs Leben. Aus der geplanten Videoschalte wird nichts, also bleibt es beim Telefonat. Am anderen Ende spricht Lidija Shevchenko. Die Frau ist 79 Jahre alt und wohnt in der sechsten Etage eines neunstöckigen Wohnhauses nicht unweit des Kiewer Stadtzentrums. Die Übersetzung des Gesprächs übernimmt Inga Shevchenko. Sie ist Lidijas Tochter und lebt seit 2005 in Konstanz.
Inga hält große Stücke auf ihre Mutter. „Sie ist eine echt coole Socke“, sagt sie im Vorfeld des Telefonats. Scherzhaft klingt das, aber es gibt nichts zu lachen. Die 79-Jährige will ihre Stadt nicht verlassen, sie will kämpfen. Wie andere Mitbewohner, sagt Inga, hat sie Molotow-Cocktails in ihrer Wohnung deponiert. Wenn der Häuserkampf beginnt, wird sie sie werfen. „Und wenn meine Mutter wirft, dann trifft sie“, sagt die 40-Jährige.
Auch das hört sich scherzhaft an, aber es ist todernst. Lidija Shevchenko holt mit ihrer damaligen sowjetischen Handballmannschaft zwischen 1972 und 1982 sechs Mal den Europatitel, 1976 gewinnt sie Gold bei den olympischen Spielen in Montreal.
Die 79-Jährige will kämpfen – bis zum Schluss
Wenn die Russen in ihr Viertel kommen, will Lidija Shevchenko – sagt die Tochter – kämpfen bis zum Schluss. Die Mutter bestätigt das im Telefonat, fügt aber eine Korrektur an. Sie werde keine Molotow-Cocktails werfen. Die Brandflaschen heißen jetzt Cocktails für Putin.
Wer ist diese Frau? Auf den Bildern, die Inga Shevchenko von ihrer Mutter zur Verfügung stellt, ist eine elegante ältere Dame zu sehen, gepflegt und schick, mit pfiffiger Frisur und verschmitzten Augen. Sie ist sehr schlank, fast hager. Eine Schwarzweiß-Aufnahme aus ihrem Sportlerinnenleben zeigt eine Frau, die die anderen Personen auf dem Foto überragt und anders als diese geradewegs in die Kamera blickt.

Die Kleidung ist ebenso schnörkellos wie von zeitloser Eleganz und sie steht etwas im Vordergrund. Die Arme hat sie verschränkt, einer der Männer hat sich bei ihr untergehakt. Der Kontrast zu beiden anderen Frauen auf dem Foto verstärkt den Eindruck einer gleichermaßen lebensfrohen, selbstbewussten und disziplinierten Frau. Und zumal im Umfeld der verlegen und steif wirkenden Männer fällt Lidija Shevshenkos unverkrampftes Lächeln auf.
Lidija Shevchenko gibt zu: „Alle haben Angst“
Die Offenheit hat sich die 79-Jährige bewahrt. Obwohl sie keinen Zweifel daran lässt, lieber in Kiew zu sterben als auf der Flucht im Bus, räumt sie frank und frei ihre Angst ein. Zum Zeitpunkt des Telefonats, das am frühen Abend des 17. März stattfindet, ist es für ein paar Momente ruhig, aber überall sind die Wohnungen in Kiew bereits abgedunkelt. „Alle haben Angst“, sagt Lidija Shevchenko, regelmäßig seien Raketeneinschläge zu hören. Die Front, schätzt sie, verlaufe 25 bis 30 Kilometer vom Zentrum entfernt.
Gut möglich, dass sich dort der Vater und Stiefvater von Eugen Kuleba befinden. Bei dem 17-Jährigen handelt es sich um den Sohn einer Bekannten von Lidija Shevchenko, er gehört zur großen Kiewer Sportlerfamilie. Er und seine Familie müssen wenige Tage nach Kriegsausbruch Hals über Kopf entscheiden, ob er fliehen soll oder nicht. Nach einer abenteuerlichen Flucht landet er in Konstanz. Hier kümmert sich jetzt Lidija Shevchenkos Tochter Inga um ihn.
Überhaupt die Sportler. Sie halten zusammen, sie machen sich Mut. Die Brüder Klitschko, sagt Lidija Shevchenko, geben den Menschen Hoffnung – ebenso wie die Lieferung von modernen Waffen aus den USA.
Und doch ändert das wenig am zermürbenden Kriegsalltag. „Man sitzt da und denkt, was kommt jetzt“, übersetzt Inga Shevchenko die Worte ihrer Mutter. Vor halb drei in der Nacht macht sie kein Auge zu, auch danach ist an Schlaf nicht wirklich zu denken. Denen, die wie sie im neunstöckigen Wohnblock ausharren, ergeht es nicht anders.
„Mama weint“, sagt die Tochter in die Stille hinein
Dann plötzlich herrscht Schweigen. Der erste Gedanke ist, dass die Leitung wie schon einmal zuvor abgebrochen ist. Aber so ist es nicht. „Mama weint“, sagt Inga Shevchenko. Doch Lidija Shevchenko fängt sich überraschend schnell wieder.
Auf die Frage, was die Welt tun könne, erfleht sie wie Präsident Wolodymyr Selenskij die Schließung des Luftraums. Die 79-Jährige weiß, dass diese gegenüber einem Konstanzer Lokaljournalisten geäußerte Bitte rein gar nichts bewirkt. Vergebens aber seien das Telefonat und ein Bericht über sie und ihre Tochter nicht. „Nur keine Aktion ist eine schlechte Aktion“, sagen Mutter und Tochter gemeinsam.
Dann gibt eine es erneute Wendung im Gespräch. Lidija Skevchenko sagt, welche Wirkung die Mitteilung in ihrem Wohnblock haben werde, wenn die Menschen erfahren, dass sie mit einem deutschen Journalisten telefoniert habe, der in der Stadt ihrer Tochter arbeitet. „Das gibt ihnen Mut, die Nacht zu überstehen.“
In dieser Phase des Gesprächs gibt es das Versprechen, sich irgendwann einmal in einem Café zu treffen. Am liebsten in Kiew. Wenn Frieden ist. Wenn Lidija Shevchenko lebt. Und dann muss Lidija Shevchenko, die erfolgreiche Handballerin, aus ihrem Leben erzählen. Und nicht vom Krieg.
Lange dauert das Gespräch danach nicht mehr, das Ende kann nicht anders als beklemmend sein. Zur sauberen Recherche aber zählt die Notiz der Gesprächsdauer. Mal ums Mal jedoch verschwimmen die Zahlen, da eine Mischung aus Hilflosigkeit, Verzweiflung und Wut in die Augen schießt und die Ziffern auf dem Display verwässern. Als sie endlich wieder klar aufscheinen, spielt die Zeit keine Rolle mehr. Was stattfand, war ein Telefonat fürs Leben.