Lieber Vitali, lieber Wladimir,
soll ich Ihnen mal was sagen? Früher ist es mir richtig schwer gefallen, Sie beide auseinanderzuhalten. Natürlich sehen Sie bei genauerer Betrachtung ganz unterschiedlich aus, aber die sportlichen Erfolge im Boxen, mit denen Sie weltberühmt geworden sind, haben mich ehrlicherweise überhaupt nicht interessiert.
Inzwischen kann ich Sie auseinanderhalten, aber ich wünschte, es wäre nicht so. Denn dass es dazu kam, dass ich Ihre Gesichter inzwischen regelmäßig auf Instagram sehe und genau weiß, wer wer ist, hat einen traurigen Grund: den Krieg in Ihrer Heimat, der Ukraine.

Wie Sie sich in den sozialen Medien präsentieren, von Kopf bis Fuß patriotisch, zupackend und mit dem unbedingten Willen, für Ihr Land zu kämpfen – das ringt mir Bewunderung ab, das muss ich sagen. Helden sind Sie für mich dennoch nicht. Denn seien wir ehrlich: Ein Krieg kann im Angesicht all des Leids keine Helden haben. Es sollte ihn einfach überhaupt nicht geben. Punkt.
Wladimir, am 14. Februar haben Sie auf Instagram ein Selfie aus Kiew gepostet, mit Sonnenschein und blauem Himmel. Zehn Tage später war nicht nur in Ihrem Leben alles anders. Jetzt zeigen Sie sich mit Schutzweste vor zerstörten Häusern. Fast eine Million Menschen schauen zu – mehr als doppelt so viele wie bei Ihrem Bruder. Vitali, Sie sind zwar Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt, aber auf Instagram zählt der Glamour-Faktor etwas mehr.
Alles ist anders
Und Sie, Wladimir, waren eben mit einem Hollywoodstar verlobt und auf Amazon Prime kann man Ihnen dabei zuschauen, wie Sie in der Show „Celebrity Hunted“ auf einem Quadski in der Langenargener Bucht über den Bodensee jagen, verfolgt von Fans. Das war ein aufregendes Spiel. Was Sie jetzt erleben, könnte nicht weiter davon entfernt sein.
Macht die Tatsache, dass Sie beide in diesem Drama nie allein sind, sondern immer einen Bruder an der Seite haben, den Krieg eigentlich erträglicher? Lenkt es Sie mal einen Moment von dem ab, was um Sie herum passiert? Können Sie zusammen zumindest kurz über Anekdoten aus Ihrer Kindheit lachen?
Als Box-Millionäre hätten Sie sich vor langer Zeit dafür entscheiden können, das Geschehen in Ihrer Heimat aus der Ferne zu verfolgen. Aber Sie, Vitali, sind in die Politik gegangen, und Sie, Wladimir, haben sich in der Stunde der Not an die Seite Ihres Bruders gestellt. Jetzt sind Sie die Gesichter der Widerstands und wichtige Symbolfiguren für die Ukrainer. Für Sie gibt es offenbar keinen anderen Weg als sich zu verteidigen, und was Sie anfangen, das bringen Sie zu Ende.
„Wenn ich ginge, wäre das Verrat“, sagen Sie, Vitali. Das kann ich nachvollziehen, auch wenn ich der Meinung bin, dass Kämpfen bei Licht betrachtet nichts Heroisches hat und es keine Ehre ist, „für sein Land zu sterben“. Aber aus sicherer Entfernung lässt sich der Krieg wohl leichter verurteilen, als wenn man mittendrin ist und es um alles geht. Deshalb wünsche ich Ihnen und allen anderen, dass Sie nicht kämpfen müssen.