Luis fehlt. Sein Versteck verraten er und seine Familie nicht, am Gespräch will er auch per Schalte nicht teilnehmen. Doch er weiß, dass seine Mutter und Oma, seine kleine Schwester und sein Stiefvater über die Folgen der Folter, der der 19-Jährige in der Nacht zum Ostermontag vergangenen Jahres ausgesetzt war, sprechen werden. Obwohl das so nicht richtig ist. Sie sprechen nicht. Sie versuchen es nur.

Am Küchentisch der Vierzimmer-Wohnung eines der mehrstöckigen Gebäuden in Wollmatingen, ziemlich weit oben, siebter oder achter Stock, ringen die Mutter und Großmutter des Opfers um Worte. Viel sagen können sie nicht, da kommen der 13-jährigen Schwester auch schon die Tränen. Die Oma legt den Arm um sie, die Mutter lehnt sich über den Tisch, nimmt die Hand, streichelt. Sie müsse nicht dabei sein, sagen sie. Aber die Schwester will. Sie ist tapfer.

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Die Täter sind es nicht. Ihre Feigheit wird nur von ihrer Gefühllosigkeit und Brutalität übertroffen. Das ist durch Handyaufnahmen dokumentiert und gerichtlich aufgearbeitet, aber die Großmutter plagen noch ganz andere Bilder. Zum Beispiel wie Luis da nach seiner geglückten Flucht gegen 6.30 Uhr am Ostermontag leicht bekleidet in der Kälte steht und sie um Hilfe bittet.

Verletzt und verwirrt vor Omas Tür

Erst begreift sie nicht, was los ist. Wer klingelt schon um diese Uhrzeit, also geht sie auf den Balkon im ersten Stock ihrer Wohnung und schaut nach unten. Warum hat der Junge keine Schuhe an? Wo ist seine Jacke? Und das Gesicht so seltsam schwarz.

In der Wohnung sieht sie dann seine geschwollene Hand, macht erst mal Kaffee. Luis druckst herum, aber die Großmutter ahnt schnell, dass Schreckliches passiert ist. Sie alarmiert die Polizei, die ruckzuck die Wohnung der Folterer stürmt. Das Ganze geht auch deshalb so flott, weil die Täter keine Unbekannten sind.

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Seither ist alles aus den Fugen, sagt die Mutter. Luis gerate schnell in Panik, wenn ein Auto langsam an ihm vorbei fahre – ein Reflex auf die Erinnerung an die Entführung, bei der die Täter ihn an einer Bushaltestelle aufgreifen und mit dem Auto zur Folterwohnung bringen.

Schlafstörungen, Herzrhythmusstörungen, Ängste beim Umgang mit Gleichaltrigen – der 19-Jährige braucht seit jener Nacht professionelle Hilfe. Er befindet sich in Therapie, lebt an einem verborgenen Ort, nach Konstanz oder in sein einstiges Zuhause kann und soll er nicht zurück.

Ghetto oder Zuhause? Die Zufallsaufnahme bei einem Spaziergang durch die Wohnblocksiedlung in Wollmatingen.
Ghetto oder Zuhause? Die Zufallsaufnahme bei einem Spaziergang durch die Wohnblocksiedlung in Wollmatingen. | Bild: Lucht, Torsten

Mutter ist sich sicher: „Er wäre tot“

Bei der Mutter sieht es nicht besser aus. Vor allem quält sie der Gedanke, was passiert wäre, wenn Luis sich nicht hätte befreien können. „Er wäre tot“, ist sie überzeugt. Den vor Gericht schmallippig geäußerten Bekundungen der Reue der Täter glaubt sie nicht, und sie hat keine Hoffnung, dass die angeordneten Therapien etwas bringen. Den drei Müttern der Folterer (die Mutter des vierten ist gestorben) dagegen nimmt sie die Entschuldigungen ab. Auch sie seien Opfer.

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Der differenzierte Blick der Mutter auf die Tat und die Täter zeigt sich bei der Einordnung ins Milieu. Im Quartier hängen die jungen Leute an der Skater-Anlage herum, viel mehr gebe es nicht. Für die Diskothek fehle das Geld, außerdem sei‘s eben auch „ein doofes Alter“.

Wie weit die allgemeine soziale Kontrolle bereits entglitten ist, zeigt sich bei einem Spaziergang durch das Viertel. Es gibt diverse Chiffren, die sich als Revierabgrenzungen verstehen lassen. Tatsächlich sind solche Zeichen in den Vororten von Großstädten vor rund 20 Jahren die Vorboten einer sich verselbstständigenden Bandenkriminalität.

Nur eine Zahl? Wohl eher die Markierung für die Abgrenzung eines Reviers. Zahlen und Chiffren dieser Art finden sich in Wollmatingen an ...
Nur eine Zahl? Wohl eher die Markierung für die Abgrenzung eines Reviers. Zahlen und Chiffren dieser Art finden sich in Wollmatingen an etlichen Gebäuden. | Bild: Lucht, Torsten

Vom kriminellen Banlieue ist Wollmatingen dennoch weit entfernt. „Wir sind hier kein Ghetto“, meint die Mutter. Man kennt sich, spricht miteinander. Der Bruder eines Täters beispielsweise rede gelegentlich mit ihr und sei vollkommen in Ordnung.

Auf der anderen Seite gibt es da die wissenden Blicke im Bus, oder die heimliche Rede in der Schule, die der Tochter zu schaffen macht. „Am liebsten würde ich wegziehen“, sagt die Mutter, zumal sie von der Rückkehr der Täter nach der Haft überzeugt ist.

Was wünscht die Familie den Tätern?

Das Ganze wird nach Einschätzung der Familie irgendwann zu etwas noch Schrecklicherem führen, zumal die Verflechtungen der Gruppe weit reichen. Der Stiefvater von Luis, der ehrenamtlich bei der Feuerwehr tätig ist, wünscht den Tätern zwar, dass sie „die Kurve kriegen“.

Der Glaube daran aber fehlt ihm, und dass die Strafen sich im Prinzip an den Forderungen der Verteidigung orientieren und weit unter denen der Anklage liegen, lassen bei ihm Zweifel am Rechtsstaat aufkommen. Seine Hoffnung setzt er auf die Entwicklung von Zivilcourage. „Vielleicht sorgt die Berichterstattung über den Prozess und unsere Lage dafür, dass die Leute aufeinander achten und zwei Mal hinschauen, was im Viertel so abläuft.“

„Oh, lieber Gott, liebst du mich noch“, steht auf einer Mauer in der Mannheimer Straße.
„Oh, lieber Gott, liebst du mich noch“, steht auf einer Mauer in der Mannheimer Straße. | Bild: Lucht, Torsten

Sie selber machen sich Vorwürfe, dass sie die Andeutungen von Luis nicht ernst genommen haben. „Wir leben doch hier nicht in Chicago“, entgegnet die Oma auf eine seiner Schilderungen. Auch die Schwester empfindet Schuldgefühle, dass sie im Vorfeld der Folternacht die Befürchtungen des Bruders nicht für bare Münze genommen hat. „Ich dachte mir, dass das wieder mal so Geschichten von ihm sind.“

Jetzt weiß sie es besser, und die reflektierte Klarsicht der gerade einmal 13-Jährigen hat fast etwas Erschreckendes. „Ich bin ein Kind“, sagt sie, „aber die schlechte Erfahrung macht mich zu einem besseren Menschen.“ Sie weiß um die nicht einfache Kindheit und Jugend der Täter, doch dies ist nach Überzeugung aller Familienmitglieder keine Rechtfertigung für deren Tat.

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Vom Sohn ist nur noch wenig da

Die persönliche Stärke kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Opfer professionelle Hilfe nutzen – nur der Stiefvater kommt ohne die Unterstützung aus. Ob sie aber aus der Gefangenschaft ihrer Angst jemals wieder herauskommen? So wie früher jedenfalls wird es nicht mehr sein. Als Luis doch einmal kurz zu Besuch kommt, fühlt er sich in seinem Zimmer nicht mehr zuhause.

Inzwischen sind seine Sachen ausgeräumt, das Zimmer wird für Büroarbeiten genutzt. Von Luis ist nur noch wenig da. Ein Batik-Tuch, das Luis ihr früher schenkte, ist der Schwester eine Stütze, und einmal während des Gesprächs leuchtet am Handgelenk der Mutter das Display ihrer Smart-Watch auf. Es zeigt das Konterfei von Luis. Er ist immer da, ganz besonders weil er fehlt.