An seinem ersten Joint zog er mit 13. Am Anfang blieb es bei ein- bis zweimal pro Woche, dann konsumierte er täglich. Schließlich drang die Sucht auch in seinen Schulvormittag und ins Umfeld seiner Konstanzer Schule ein. „Ich habe in den Fünf-Minuten-Pausen gekifft“, sagt Anis M., es bleibt offen, ob überhaupt irgendwer wenigstens den Versuch unternahmen, ihn davon abzuhalten. Mit 16 Jahren hatte er dann „alles ausprobiert“, konsumierte regelmäßig Kokain, erlebte Phasen des Rauschs und der Aggressivität. Nach der Schule kam auch noch der Alkohol dazu.

Theo sagt: Im Asylheim habe ich Diebesgut gegen Gras getauscht

Auch Theo R. war nach eigenen Bekunden 13 Jahre alt, als er mit dem Cannabis-Konsum anfing. Für die Drogen brauchte er Geld, er begann zu klauen. Schnell lernte er, wie man „im Asylheim“ Diebesgut gegen Gras tauschen kann. Wenig später kamen Kokain und die synthetische Droge Speed dazu – ein Amphetamin, das süchtig machen kann. Zu der Zeit, als er zum ersten Mal in Untersuchungshaft genommen wurde, lag sein Konsum bei einem halben Gramm Kokain – Kostenpunkt etwa 35 Euro. Pro Tag.

Waldemar erklärt: Mehr als Cannabis konsumiere ich Alkohol

Waldemar B. begann mit 15 oder 16 Jahren zu trinken. Wodka, Whisky, wenig später kam Kokain dazu, „gelegentlich Gras“, also Cannabis. Er sei sonst ein ruhiger Mensch, aber der Alkohol mache ihn „aggressiv“. Trotzdem trinkt er. Fast jedes Wochenende, wie er sagt, mehrere Liter hochprozentigen Schnaps. Dabei hatte er seinen Realschulabschluss nachgemacht, eine Lehrstelle als Maschinenführer in Aussicht. Dann kamen Corona und eine Haftstrafe dazwischen. Bei anderen Jobs merkte er, dass er „keine Lust“ hatte.

Pascal langweilte sich, nahm Drogen und wurde gewalttätig

Pascal R. hatte nach eigener Aussage bisher „kein Drogenproblem“ – abgesehen davon, dass er mit elf Jahren begann, Alkohol zu trinken und später auch illegale Rauschmittel zu sich nahm. Es folgen Straftaten, meist Diebstahl und Körperverletzung. Er steht unter Bewährung, lässt seinen Anwalt sagen, er sei nicht als süchtig zu bezeichnen.

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Vier Geschichten, die die vier jungen Männer selbst erzählt haben. In einem der seltenen Momente, die Einblick gewähren, wie junge Menschen auf die schiefe Bahn geraten. Heute sind sie 21 und 22 Jahre alt. Zahlreiche Gleichaltrige sitzen mit im Schwurgerichtssaal des Konstanzer Landgerichts, als der Strafprozess gegen die vier Männer beginnt.

Für viele der Zuschauer ist der Besuch der Verhandlung Teil des Schulunterrichts. Ob sie aber auch etwas fürs Leben lernen an diesem Tag, wird sich vielleicht erst in Jahren zeigen. Als drei Verhandlungstage später das Urteil fällt, steht für die Schüler offenbar schon wieder neuer Lernstoff auf dem Programm.

Vor Gericht gibt es keinen Anlass, mit einer Drogenkarriere zu prahlen

Die standardmäßige – und diesem Prozess zugleich besonders relevante – Frage des Richters nach dem Drogenkonsum beantworten die vier Angeklagten routiniert. Sie haben sich nicht zum ersten Mal vor Gericht zu verantworten, und sie haben weder Grund, mit ihrer Rauschgiftkarriere zu prahlen, noch sie herunterzuspielen.

Was B., M. und R. aber sagen, ist: Sie wollen einen Entzug machen. Einen 64er, wie es heißt: Nach diesem Paragraphen des Strafgesetzbuchs kann ein Gericht statt einer Haftstrafe auch eine Unterbringung und Therapie von suchtkranken Tätern verhängen. Viele Delinquenten halten das für angenehmer.

Vor Gericht wird einer der mutmaßlichen Konstanzer Drogenhändler in Fußfesseln vorgeführt. Gegen die mehrjährige Haftstrafe werden ...
Vor Gericht wird einer der mutmaßlichen Konstanzer Drogenhändler in Fußfesseln vorgeführt. Gegen die mehrjährige Haftstrafe werden Staatsanwaltschaft und Nebenklage später in Revision gehen. | Bild: Rau, Jörg-Peter

„Ich wollte gar nicht aufhören, ich habe das ja gemacht, weil es mir guttut.“

Wie hart der Ausstieg aus dem Drogenkonsum ist, kann Theo R immerhin erahnen. Er sagt, er habe sich mal in der Suchtberatung informiert. Er berichtet, wie einige seiner Mitangeklagten, von Panik-Attacken – und klagt, dass er in Haft Entzugserscheinungen hatte.

Kaum wieder draußen, begann er erneut zu konsumieren. Ausgerechnet ein Suchtmittel gab auch einem seiner Bekannten die Illusion, die Kontrolle über sein Leben zu haben: „Ich wollte gar nicht aufhören“, sagt Anis M., „ich habe das ja gemacht, weil es mir guttut“.

Drogen im Kreis Konstanz

Die vier Betroffenen haben alle Entwurzelung erlebt

Warum? Was sich fast alle Eltern von Drogenabhängigen fragen, darauf kann ein Strafprozess von wenigen Tagen natürlich keine erschöpfende Antwort geben. Bei den vier jungen Männern wird aber doch als Leitmotiv deutlich, dass sie viel Entwurzelung erlebt haben. Drei von ihnen haben Migrationshintergrund, zwei keinen oder kaum Kontakt zu den Vätern, beim vierten ist der Vater tot, ein anderer verlor früh die Mutter.

Theo R. wurde zwischen Schulen in Konstanz, Radolfzell und Singen hin- und hergereicht. Anis M. hat vier verschiedene Schulen besucht, und flog – eine Entscheidung, die sich keine Schule leicht macht – kurz vor der Mittleren Reife, aus Verhaltensgründen.

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Wenn eine Beziehung scheitert, droht oft auch eine Eskalation

Zugleich gab es auch Bindungen. Die Beziehung zur Mutter zerbrach bei einem der jungen Männer, als sie es nicht mehr mit ihrem drogensüchtigen Sohn aushielt und Zuflucht in einer Ferienwohnung suchte. Für einen seiner Bekannten schien sich vieles zum Guten zu wenden, als er E. kennenlernte, eine Abiturientin mit netter Familie, die über den Freund ihrer Tochter vermutlich nicht alles weiß. Im Frühjahr 2022 kommt es zur Trennung, wenig später beteiligt sich der junge Mann an dem Gewaltdelikt, das ihn letztlich auch vor die Strafkammer führt.

Bei Pascal S. bescheinigt die Gutachterin die beste Sozialprognose, Mutter und Halbbruder stehen hinter ihm. Straftaten, sagt der junge Mann, habe er zumeist „aus Langeweile“ begangen, „man kommt auf dumme Gedanken“, vor allem, wenn der Kraftsport keine Motivation gibt. Warum er jetzt schon wieder vor Gericht steht, seine Bewährung aufs Spiel gesetzt hat? „Zur falschen Zeit am falschen Ort“, sagt er.

Die nächste verhängnisvolle Stufe: Aus Konsumenten werden Dealer

In schwierigen Verhältnissen müssen viele Kinder aufwachsen, viele müssen Entfremdung erleben, Armut, Lieblosigkeit, Misserfolg und Ablehnung. Nicht alle landen im Drogensumpf, und gerade deshalb will es die Strafkammer am Konstanzer Landgericht genauer wissen, um ein angemessenes Urteil fällen zu können.

Der „Frust kommt vom Leben“, sagt Anis M., der „fortlaufend in Sachen verstrickt“ war. Theo R. spricht vom „falschen Umfeld“. So wurden sie von Jungs, die Drogen konsumieren, zu jungen Männern, die mit Drogen handeln und andere Süchtige beliefern, tief verstrickt in Kriminalität.

(Symbolbild) Oft ist es der Einstieg in eine Drogenkarriere, die tief in den Sumpf der Kriminalität führt: Cannabis, hier in einem ...
(Symbolbild) Oft ist es der Einstieg in eine Drogenkarriere, die tief in den Sumpf der Kriminalität führt: Cannabis, hier in einem Joint, ist auch in Sachen Legalisierung umstritten. | Bild: Christoph Soeder, dpa

Welche Rolle spielt die Bande Wollmatingen 67?

Dieses Umfeld – die Freunde, die großen Dealer, die Drogenkunden – hatten die was mit Wollmatingen 67 zu tun? Das will der Vorsitzende Richter wissen, von jedem einzeln. Nach den Endziffern der Postleitzahl für die westlichen Stadtteile Fürstenberg, Industriegebiet und eben auch Wollmatingen soll sich eine kriminelle Bande nennen; bisweilen ist auch von „467“ die Rede.

Zuerst Anis M.: „Wollmatingen 67, war das Ihre Familie?“, fragt der Richter, der Angeklagte verneint. Alle anderen werden es exakt ebenso halten.

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Wie die Perspektiven für die vier jungen Männer aussehen, lässt sich in etwa abschätzen. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Urteile – drei bis sechs Jahre Gefängnis – Revision eingelegt. Doch egal wie das ausgeht, müssen sie sich auf eine lange Zeit in Unfreiheit einrichten.

Ob sie in der Justizvollzugsanstalt dann endlich von ihrer Sucht loskommen? Die Antwort von Anis M., der schon so oft vor Gericht stand, klingt illusionslos: Drogen, das war bisher für ihn Handel und Konsum, Dealer und Süchtiger, Täter- und Opferrolle zugleich. Die JVA aber hat er so erlebt: „Das ist fressen oder gefressen werden.“