Deutschland ist ein guter Kerl. Es sind um ihr Leben bangende Menschen, die sich in den Jahren 2015 und 2016 in großer Zahl in Sicherheit bringen wollen, und anders als andere Länder werden hierzulande die Grenzen geöffnet. Unter den Flüchtenden befinden sich vier Jugendliche, drei aus Syrien und einer aus Nordmazedonien. Sie schaffen es, irgendwie. Wochen und Monate sind sie unterwegs, Jahre wird es bis dauern, bis sie in Konstanz familiär, schulisch und sozial so einigermaßen ankommen.

Feste Verwurzelungen sind es nicht. Das Quartett hat einiges auf dem Kerbholz – nichts wirklich Schlimmes, aber eben auch nichts, was man hierzulande auf die leichte Schulter nimmt. Erfahrungen mit Alkohol und Drogen gehören dazu, kleinere Diebstähle, einer von ihnen stand schon mal wegen Betrugs vor Gericht. Besonders dieser Betrugsfalls verdeutlicht, wie schräg ihr bisheriges Leben verläuft. Der heute 19-Jährige versucht sich trotz seiner Jugend und ohne Schulabschluss, jedoch durchaus erfolgversprechend als Quereinsteiger in der Vermögensberatung.
Anklage vor dem Amtsgericht
Und jetzt also sitzen diese vier im Sitzungssaal 107 des Amtsgerichts Konstanz. Alle tragen sie schwarz, der Haarschnitt sitzt wie frisch vom Barbier, der Bartwuchs lässt sie älter erscheinen und das Ganze dient wohl dem Zweck des seriösen Eindrucks. Man gibt sich kleinlaut, ab und an dient ein bedepperter Hundeblick als Bekundung von Reue. So ganz aber gelingt es nicht. Lausbübisch erscheinen die Angeklagten, wenn sie sich zulächeln, zwischendurch wird gegähnt, einer kaut Kaugummi und ein anderer greift zwischendurch zum Handy.
Die Flausen treibt Richterin Peltz den Burschen gehörig aus. Als einer auf Kumpel macht und auf eine Frage der Richterin mit der Gegenfrage reagiert, „was Du in dieser Situation gemacht hättest“, raunzt sie ihn an: „Für Sie bin ich immer noch die Vorsitzende, und ich duze Sie ja auch nicht“. Später fordert sie den Angeklagten auf, den Kaugummi aus dem Mund zu nehmen, wenn er mit ihr rede.
Den Handy-Nutzer pflaumt sie so richtig an: „Handy weg – aber sofort!“ Die Jungs schleichen sich. Das macht vor Gericht mehr Eindruck als die Vortäuschung von erwachsener Reife. Die Jungs zeigen Respekt und wissen, dass sie etwas Unrechtes angestellt hat.
Was war geschehen?
Aber warum? Was hat die Angeklagten am Abend des 31. Oktober 2020 dazu veranlasst, ohne nachvollziehbares Motiv auf einen damals 20-jährigen Fahrgast einzuschlagen? War es eine geplante Tat, bei der die Krücke eines der Angeklagten sowie ein Fahrradschloss bewusst als Schlagwerkzeuge eingesetzt wurden? Was ist dran an der Vorgeschichte, wonach es am Tag zuvor eine Schlägerei auf dem Zähringer Platz zwischen zwei sich streitenden Jugendgruppen gab?
Welche Schuld trägt der Einzelne und was ist der Gruppendynamik geschuldet? War Alkohol im Spiel? Und warum überhaupt drosch die Gang auf den Mann ein, den sie angeblich nur so lala vom Sehen her kennt? Als schließlich auch noch einige bei der Polizei gemachten Angaben revidiert werden, nimmt die Sachlage die Dimension der Undurchdringbarkeit an.
Video dokumentiert der Schlägerei
Am Fakt selbst indessen gibt es nichts zu deuteln. Es liegt eine Dokumentation als Video vor, Zeugenaussagen anderer Fahrgäste bestätigen den Ablauf der Schlägerei. Die Ursache aber geht daraus nicht hervor, wobei auch das Opfer nichts beizutragen weiß – dessen Aussagen befördern im Gegenteil noch die Irritation.
Nein, er habe keine Verletzungen davon getragen, von nennenswerten Schmerzen weiß er auch nichts, was er auf mögliche biochemische Reaktionen des Schockmoments zurückführt. Die Angreifer kennt er nicht, jedenfalls nicht so richtig. Von der Schlägerei am Zähringer Platz will er gehört haben, mehr nicht. Bei jeder Frage hinterlässt der Mann den Eindruck, dass er den Gerichtssaal nur möglichst schnell wieder verlassen will.
Strafe aber muss trotz der vielen offenen Fragen sein. Zu schwer wiegt die Schuld der offensichtlichen gefährlichen Körperverletzung, bei dem der einzige zur Tatzeit bereits unter das Erwachsenenstrafrecht fallende Angeklagte prinzipiell mit einem Freiheitsentzug zwischen sechs Monaten und zehn Jahren zu rechnen hätte.
Doch es kommt milde: Die Geldstrafen lassen sich hierzulande in gutbürgerlichen Kreisen im Bereich eines mehrmonatigen verschärften Taschengeldentzugs ansiedeln, das Quartett jedoch wird sie voraussichtlich in Raten abstottern. Vom spärlichen Lohn als Berufsanfänger geben sie einiges ab für die Familien, teilweise drückt die Last von Altschulden. Gewiss keine riesigen Summen, doch auch dies bleibt eine Frage der Perspektive.
Gute Sozialprognosen
Diese allerdings ist langfristig gut. Die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe würdigt die schulischen Leistungen der Delinquenten, ihren Ehrgeiz beim Erwerb der deutschen Sprache, die Unterstützung und frühe Verantwortung in den Familien, den Arbeitswillen, den sportlichen Eifer und dass alle vier in den vergangenen zwei Jahren einen charakterlichen und sozialen Reifeprozess durchgemacht haben. Vor dem Hintergrund der Fluchtbiografien wächst so zwangsläufig der Respekt vor diesen Jungs, die durch Politik und Krieg um eine harmonische Jugend gebracht wurden.
Das im Einvernehmen mit der Staatsanwältin gut meinende Urteil zielt dabei ganz darauf ab, dass die vier jungen Erwachsenen es in Deutschland schaffen. Später, beim Verlassen des Gerichtsgebäudes an der Unteren Laube, ist allerdings nicht ganz klar, was bei den glücklich Freigesprochenen größeren Eindruck hinterlässt: Die hierzulande geltende Milde eines guten Kerls namens Deutschland oder dass Richterin Peltz ihnen im Prozess ein paar Mal mit klaren Worten in Sachen Benehmen auf die Spur verhilft. Die Botschaft jedenfalls sitzt, die Jungs verabschieden sich unaufgefordert, freundlich und formgerecht.