Ein Sonntag im Januar 2020: Der Gottesdienst in der Litzelstetter Auferstehungskirche neigt sich seinem Ende entgegen. Da steht ein Mann auf und kündigt an, dass er draußen, hinter dem evangelischen Gotteshaus mit einer Waffe in die Luft schießen werde. Wenig später rückt ein Großaufgebot der Polizei an. Der Mann lässt sich widerstandslos festnehmen. Verletzt wird bei dem Vorfall niemand.

Über ein Jahr nach den Ereignissen in der Auferstehungskirche steht ein 49-Jähriger vor dem Konstanzer Amtsgericht und muss sich dafür verantworten. Daneben ist er weiterer Taten angeklagt, die er Mitte Januar innerhalb kürzester Zeit begangen haben soll.

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Das Urteil

Gegen Ende der rund dreistündigen Verhandlung, zu der neun Zeugen und ein Sachverständiger geladen sind, wird ihn die vorsitzende Richterin zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilen, die zur Bewährung ausgesetzt ist. Zudem wird ihm die Fahrerlaubnis entzogen. Er muss 150 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten, sich psychiatrisch und psychologisch therapieren lassen sowie ein psychopharmazeutisches Medikament weiterhin einnehmen.

Die Richterin folgt damit weitestgehend dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Sie sieht es als erwiesen an, dass der Angeklagte bei sämtlichen Taten unter Wahnvorstellungen litt. Dadurch sei seine Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit erheblich vermindert gewesen, wie auch das psychiatrische Gutachten des Sachverständigen ausführt. Dieser sagt vor Gericht, der Angeklagte weise die relativ typische Krankenentwicklung einer bipolaren affektiven Störung auf.

Der Wahn

Vor den ihm zur Last gelegten Taten war der in der Bodenseeregion wohnhafte Mann strafrechtlich nicht aufgefallen. Auch sein Anwalt, der einige Jahre sein Betreuer war, bestätigt, dass sein Mandant dank der richtigen Behandlung und Medikation stabiler geworden sei. Doch dann wendete sich im Januar vergangenen Jahres das Blatt.

Der Angeklagte selbst beschreibt vor Gericht mit ruhiger, fast monotoner Stimme, warum die „Wahngedanken“, wie er sie nennt, ihn wieder übermannten. Alles habe damit begonnen, dass er seine Medikamente selbst abgesetzt habe. „Und ich hatte sehr wenig Schlaf, drei Stunden pro Nacht, war sehr getrieben.“

Nach einer Nacht in Ulm habe er sich schließlich eine Schreckschusspistole und eine Dose mit CS-Gas, auch Tränengas genannt, besorgt. „In der Nacht habe ich mich bedroht gefühlt, war manisch.“ Er verfällt immer mehr seinen Wahnvorstellungen, besprüht mit dem CS-Gas Autos mit Schweizer Kennzeichen, wie er selbst erzählt: „Es waren Autos, die mir verdächtig vorkamen, ich war überzeugt, dass sie in illegalen Grenzverkehr verwickelt sind. Das tut mir leid, das ist psychotisches Denken.“

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Im Parkhaus

Rund zwei Tage später nimmt eine Abfolge von Ereignissen ihren Lauf, derentwegen der Mann vor Gericht landet, und die durch ihn selbst und zahlreiche Zeugenaussagen belegt sind.

Eines Abends ist er mit seinem Auto in Konstanz unterwegs, stellt es in einem Parkhaus ab. Als er wieder nach Hause fahren will, hat er kein Geld, um das Parkticket zu bezahlen. Er wartet daraufhin in einer Parklücke vor der Ausfahrt. Als ein anderes Auto die Schranke passiert, fährt er hinterher, die Schranke senkt sich, knallt auf die Windschutzscheibe und wird aus ihrer Verankerung gerissen. „Ich habe mich in dem Moment wie ein Held gefühlt, der die Schranke durchbricht“, schildert der Angeklagte vor Gericht.

In der Mainaustraße

Nach dem Vorfall im Parkhaus sei er zum Hafen bei Wallhausen gefahren, habe dort übernachtet, erzählt der Mann. Am nächsten Tag geht es für ihn weiter, Richtung Litzelstetten. Auf der Mainaustraße begegnet er einer Rennradfahrerin, hupt, fährt ihr mit seinem Auto dicht auf, brüllt sie durchs Seitenfenster an, drängt sie in die Bucht einer Bushaltestelle, hält vor ihr an. „Ich war wütend, dass sie auf der Fahrbahn fährt, dass sie sich selbst gefährdet und dass ich sie in einer Kurve überholen muss. Ich fühlte Angst, aber es kam als Aggressivität raus in diesem Zustand“, erläutert der Angeklagte vor Gericht.

Als die Radfahrerin damals zu ihm hingeht, hält er ihr die inzwischen leere CS-Gas-Dose durchs Seitenfenster entgegen und drückt ab. Aber es kommt nichts raus. Die Radfahrerin ist trotzdem geschockt und versucht, andere Autos anzuhalten. Der Angeklagte fährt daraufhin weiter.

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In der Kirche

In Litzelstetten angekommen, macht er sich zu Fuß auf den Weg zur Auferstehungskirche. Mit dabei hat er einen Koffer, und darin eine Schreckschusspistole, ein Navy-Seals-Kampfmesser, zwölf Kartuschen Munition und eine Sturmhaube, wie ein Polizist vor Gericht bestätigen wird.

Vor Gottesdienstbeginn begegnet der Angeklagte einem weiteren Zeugen, der ihn schon länger als Mitglied der evangelischen Gemeinde kennt. „Er hat gesagt, er müsse zur katholischen Kirche und die Leute warnen“, erzählt der Zeuge vor Gericht. In der Auferstehungskirche sieht er den Angeklagten wieder und hört, wie er vor dem Schlusssegen ankündigt, später hinter der Kirche, in der Nähe eines Kinderspielplatzes, mit einer Waffe in die Luft schießen zu wollen.

„Ich habe gesagt, dass ich Salutschüsse abgeben werde. Habe es gesagt, damit die Leute nicht erschrecken“, erklärt der Angeklagte vor Gericht. Es sollte ein Signal sein, dass die Kirche jetzt vorbei und nun Mittag sei, führt er aus.

Trotz dieser Ankündigung wird der Gottesdienst normal zu Ende geführt. Später beraten sich einzelne Gemeindemitglieder. Einer geht mit dem Angeklagten ins Kirchen-Café und spricht beruhigend auf ihn ein, andere alarmieren die Polizei. Bevor diese eintrifft, lässt der Angeklagte von seinem Vorhaben ab, wie ein Zeuge bestätigt: „Er hat dann von sich aus gesagt: Ich glaube, ich mache es nicht.“

Ein Jahr später

Von der Polizei lässt sich der Mann widerstandslos festnehmen, wird in eine psychiatrische Klinik gebracht, wo er rund zwei Monate verbringt. Inzwischen lebt er wieder in einer betreuten Wohngemeinschaft, ist medikamentös so eingestellt, dass ihn die Wahngedanken nicht mehr quälen, und wird psychiatrisch sowie psychologisch therapiert. Der geladene Gutachter sagt vor Gericht, dass der Angeklagte deshalb nun „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Gefahr für andere darstellt.“

Auf die Frage der Richterin, wie er sich derzeit fühle, sagt der 49-Jährige selbst: „Ich bin sehr ruhig, innerlich leer, antriebsschwach. Ich spüre keine Impulsivität mehr.“