Auf dem Bett liegen große Federarrangements, fantasievoller Kopfschmuck, Hüte, glitzernde Paillettenkleider. Am Kleiderständer hängen noch mehr schillernde Kleidungsstücke. Gabriele Sauter und ihr Bruder Josef Mratschnigger, den Gabi liebevoll Beschi nennt, haben Freude, in diesem Fundus zu stöbern.

Josef Mratschnigger und Gabriele Sauter stöbern in ihrem persönlichen Kostümfundus.
Josef Mratschnigger und Gabriele Sauter stöbern in ihrem persönlichen Kostümfundus. | Bild: Scherrer, Aurelia

Spaß an der Verkleidung hatte das Geschwisterpaar schon immer. Bei Familienfesten sind sie schon von Kindesbeinen an aufgetreten. Aber zusammen auf einer öffentlichen Bühne?

Joosy stand schon mit 16 Jahren auf der Bühne

Nicht nur Mädchen machen in jungen Jahren Mamas Kleiderschrank unsicher. Auch Josef Mratschnigger fand es toll, Kleider anzuprobieren. Und dann war Maggie Mae mit ihrem Hit „My Boy Lollipop“ im Fernsehen zu sehen. „Ich fand sie toll, weil sie so verrückt war mit ihrem Schlapphut. Ich wollte so sein, wie sie“, erinnert sich Josef Mratschnigger. „Mit zwölf Jahren habe ich sie parodiert“, erst bei einem Schulfest, dann am 11. November 1976 beim Fasnachtsauftakt der Narrengesellschaft Niederburg im St. Johann.

Er war gerade einmal 15 oder 16 Jahre alt, als er sich in Tina Lord‘s Bar in der Oberen Sonne hineingeschmuggelt habe, eine legendäre Bar mit einer winzigen Bühne, auf der regelmäßig Travestie-Shows geboten wurden. „Ich habe Tina kennengelernt und bin dort schon mit 16 aufgetreten“, erzählt Josef Mratschnigger, der seine Bühnenfigur Joosy nannte. Seine Eltern wussten anfangs davon nichts.

Joosy: So charmant und betörend wie eh und je.
Joosy: So charmant und betörend wie eh und je. | Bild: Scherrer, Aurelia

„Dass ich schwul bin, habe ich schon mit 15 gewusst“, sagt Josef Mratschnigger. „Meine Eltern haben es wohl vermutet, aber verdrängt“, mutmaßt er. Das Outing war einem Zufall geschuldet. Seinen Eltern sagte er, er wolle Samstagabend in die Disco Orange, ging aber in Tinas Bar. Am Sonntag meinte seine ältere Schwester, sie hätte ihn gar nicht im Orange gesehen. Da bekannte er offen, dass er im Schwulenlokal gewesen war. „Meine Mutter war anfangs gar nicht begeistert. Als Mary und Gordy vor Tina und mir im Tanzbödeli aufgetreten sind, war sie auf einmal ausgesöhnt“, erzählt Josef Mratschnigger.

Konstanz in den 80ern: ein bunter Vorreiter

Die jüngere Schwester Gabriele nahm das Outing gelassen, denn: „Beschi ist mein Bruder. So lieb ich ihn“, stellt sie rundheraus fest. Und außerdem: „Der Onkel meines damaligen Freundes war eine Tante.“ Josef Mratschnigger empfindet es als „Glück, weil ich es früh gemerkt habe und jung in die Szene reingeschlittert bin. Ich kenne niemanden, der sich so früh geoutet hat“.

Probleme habe er deshalb nicht gehabt, lediglich während seiner Ausbildung als Feinmechaniker bei AEG Telefunken unter 50 bis 60 Lehrlingen. Es habe sich um subtile Anspielungen und Gerede und Witzeleien hinter seinem Rücken gehandelt. „Heute würde man wohl von einer bestimmten Art von Mobbing sprechen“, mutmaßt Mratschnigger.

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Wie ist er damit umgegangen? „Es war schwierig. Ich bin vor versammelter Mannschaft aufgestanden und habe gefragt, ob jemand Probleme mit Schwulen hat. Ab dem Tag war Ruhe“, berichtet Josef Mratschnigger. In Konstanz war es in den 1980er Jahren eher entspannt. „Filou, Antik, Pferdestall… Es gab viele Schwulenkneipen für eine Kleinstadt. Die Leute sind sogar von Zürich hergekommen, weil Konstanz sehr bunt und Vorreiter war“, so Mratschnigger, der an eine Vorläuferveranstaltung des Christopher Street Day im Jahr 1983 in der Konzilstadt denkt. „Warme Wellen am Bodensee“, erinnert er sich an den Slogan und Gabriele Sauter fügt an: „Ein wertschätzender Ausdruck.“

Travestie ist Kunst, aber „heute sieht man nur noch Dragqueens“

Und doch zog es Josef Mratschnigger 1995 in die Großstadt Berlin, „nicht wegen der schönen Architektur, sondern wegen der Schwulenszene, die mich, wie viele andere Provinzler, gereizt hat“. Wie war der erste Eindruck des Konstanzers? „Sodom und Gomorra“, lacht Mratschnigger. Was wurde aus Joosy? „Ich hatte eine Ambivalenz in mir. Für Tina Lord war klar, dass das Bühnenmetier ihr Leben ist.“ Aber für ihn war die reine Bühnenkarriere nicht das Geeignete, nicht nur wegen der finanziellen Unsicherheit.

So arbeitet Josef Mratschnigger seit etwa 30 Jahren bei der Neuköllner Oper in der Verwaltung und verwandelt sich dann und wann in Joosy, die auf der Bühne in unterschiedlichste Kostüme schlüpft und live singt. Aber eher selten, denn „Travestie wurde irgendwann inflationär und teilweise grottig“, so Mratschnigger, dabei sollte der Fokus auf Livegesang und Performance liegen, findet er.

Als Joosy Beschi und Gabi Chance begeisterten sie das Publikum bei ihrer ersten gemeinsamen Revue in der Kulturbühne im St. Johann.
Als Joosy Beschi und Gabi Chance begeisterten sie das Publikum bei ihrer ersten gemeinsamen Revue in der Kulturbühne im St. Johann. | Bild: Scherrer, Aurelia

„Heute sieht man eigentlich nur noch Dragqueens.“ Das habe mit Travestie nichts zu tun. Was ist für ihn Travestie? „Ein Mann, der auf der Bühne eine Frau verkörpert, Kunst darbietet und überzeichnet.“ „Die Ästhetik einer schönen Frau“, wirft Gabriele Sauter ein und ergänzt mit einem bewundernden Blick zu ihrem Bruder und seinem Verwandlungstalent und -geschick an, dass man beim Anblick eines Travestiekünstlers denkt: „So schön kann eine Frau sein.“

Bruder Josef ist einfach nur stolz auf seine Schwester Gabi

Die Liebe zur Verkleidung und das gesangliche Talent sind auch seiner Schwester Gabriele Sauter in die Wiege gelegt. 26 Jahre hat sie in Chören gesungen, erst bei den Zoffvoices, dann bei Dezibella, und Gesangsunterricht genommen. „Mein Traum war es, einmal selbst etwas zu machen“, sagt sie. Im vergangenen Jahr hat sie ein Wohnzimmerkonzert gegeben und ein 40-Minuten-Programm bei einem Sommerfest in einer Wohnanlage bestritten.

Willkommen, bienvenue, welcome: Gabi Chance hätte einem Musical entsprungen sein können.
Willkommen, bienvenue, welcome: Gabi Chance hätte einem Musical entsprungen sein können. | Bild: Scherrer, Aurelia

In diesem Jahr wollte Gabriele Sauter in der Kulturbühne auftreten. Dort wurde sie gefragt, ob das Programm nicht länger sein könnte. Der Termin stand fest. Sie fragte ihren Bruder, doch er war alles andere als begeistert; eine gemeinsame Show konnte er sich nicht vorstellen, zumal er – wie er selbst bekennt – einen Hang zum Perfektionismus hat.

Mit Engelszungen versuchte Gabi ihn zu überreden: „Ich wäre superstolz. Und es ist für mich kein Problem, wenn das Publikum mehr für dich klatscht“, führte sie an. Das zog noch nicht. „Ich habe ihn dann mit seinen eigenen Waffen geschlagen.“ Wie? Vor Entscheidungen habe er immer davon gesprochen, „wenn der Sargdeckel einmal zuklappt“, solle man sich nicht vorwerfen, dass man etwas nicht gemacht habe. Das hat gezogen.

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„Sie hat alles organisiert. Das hat mich sehr beeindruckt“, ist Josef Mratschnigger stolz auf seine Schwester. „In zwei bis drei Tagen haben wir das Programm zusammengestellt“, ergänzt Gabriele Sauter. Und der erste gemeinsame öffentliche Auftritt war ein Erfolg. Das Künstler-Geschwisterpaar ist glücklich und überlegt, was es wann, wo und wie erneut auf eine Konstanzer Bühne bringen könnte.