Als seine Stieftochter sieben Jahre alt ist, soll er sie zum ersten Mal angefasst haben. An ihrem 15. Geburtstag habe er sie das letzte Mal vergewaltigt. Das ist nur ein Teil der Taten, für die sich ein 29-jähriger Mann vor dem Konstanzer Landgericht verantworten muss. Es ist das Ende eines zweitägigen Prozesses, der den Beteiligten an die Substanz geht.
Zu den schweren Anschuldigungen schwieg der Mann schon am ersten Verhandlungstag. Trotzdem gibt Richter Joachim Dospil dem Angeklagten noch einmal die Chance, sich zu äußern. „Wenn es irgendetwas zu gestehen gäbe, wären Sie gut beraten, ein Geständnis abzulegen“, meint Dospil. Insbesondere in solchen Verfahren wirke es sich strafmildernd aus, Reue zu zeigen und Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen. Der Angeklagte lehnt ab.
Mutter glaubt den Vorwürfen ihrer Tochter nicht
Neun Zeugen sagten am ersten Verhandlungstag im Schwurgerichtssaal des Landgerichts aus. Darunter ein Polizeibeamter, Verwandte sowie Freunde der Geschädigten, wir nennen sie Nora L. (Anm. d. Red.: Name von der Redaktion geändert). Die meisten von ihnen gaben an, den Vorwürfen des Mädchens zu glauben. Einzig die Mutter bezeichnete die Geschichte ihrer Tochter als „erfunden“.
Stimmt es also, was Nora L. ihrem Stiefvater vorwirft, oder nicht? Genau mit dieser Frage richtet sich die Kammer an diesem zweiten Prozesstag an Diplom-Psychologin Carmen Bargel, die als Sachverständige geladen ist. Anhand zuvor geführter Gespräche und psychologischer Gutachten beurteilt sie die Glaubwürdigkeit der jungen Frau. Dabei stellt die Expertin fest: „Es sind keine Dramatisierungstendenzen oder Falschbezichtigungsneigungen erkennbar, keine Hinweise auf eine überbordende Fantasie oder suggestive Einflussnahme.“
Psychologin hält Nora L. für glaubwürdig
Kurzum: Nora L. inszeniert ihre Opferrolle nicht, davon ist Carmen Bargel überzeugt. „Ihre Schilderungen entsprechen wahren Aussagen zu innerfamiliärem Missbrauch in hohem Maße.“ Weiter erklärt die Psychologin: „Sie schilderte detailgetreu, wie er sie das erste Mal vergewaltigt hat, wie sie Schmerzen hatte, versucht hat, sich zu wehren, ihn wegzuschubsen.“
Glaubwürdig und widerspruchsfrei habe sie berichtet, wie sie nach dem Geschlechtsverkehr stets Angst vor einer Schwangerschaft oder einer Blasenentzündung gehabt habe. Wie schlimm es für sie gewesen sei, im elterlichen Bett Sex mit ihrem Stiefvater zu haben. „Eine lügende und sexuell unerfahrene Zeugin würde solche Überlegungen nicht machen“, gibt Bargel zu bedenken.
Angeklagter zeigt erstmals Emotionen
Während die Psychologin detailliert beschreibt, was er seiner Stieftochter angetan haben soll, sitzt der Angeklagte gebückt neben seinem Verteidiger. Am ersten Prozesstag zeigte er sich noch kalt und emotionslos, nun spricht seine Mimik eine andere Sprache. Der 29-Jährige knetet seine Hände, manchmal runzelt er die Stirn. Er starrt auf den Tisch vor sich, das Kinn gegen die Brust gepresst.
Der 29-Jährige habe die schlechte Mutter-Tochter-Beziehung ausgenutzt, fährt die Psychologin fort. „Er hat ihr gedroht, der Mutter zu sagen, sie habe ihn verführt.“ Dass Nora L. so lange Zeit niemandem von dem Missbrauch erzählt hatte, begründet Bargel außerdem so: „Ihre Mutter hat ihr vor Jahren schon nicht geglaubt“, als das Kind sich ihr einmalig anvertraute. „Ihr langes Schweigen ist psychologisch nachvollziehbar und typisch für Opfer sexueller Gewalt“, sagt die Expertin.
Nora L. kämpft mit Folgen des Missbrauchs
Dass jahrelanger Missbrauch Spuren bei den Opfern hinterlassen muss, liegt auf der Hand. Auch für Nora L. seien sie schwerwiegend gewesen, so Bargel. Sie habe einen Waschzwang entwickelt, leide unter Panikattacken und Konzentrationsproblemen. „Dazu kommt eine posttraumatische Belastungsstörung nach sexuellem Missbrauch ab dem siebten Lebensjahr“, sagt die Psychologin. Inzwischen gehe es Nora L. etwas besser. Die junge Frau habe ein Freiwilliges Soziales Jahr abgeschlossen und kürzlich eine Ausbildung begonnen.
Angeklagter wird zu mehrjähriger Haftstrafe verurteilt
Das psychologische Gutachten und die zuvor gehörten Zeugenaussagen lassen für Richter Joachim Dospil am Ende des Tages nur einen Schluss zu: Der Mann auf der Anklagebank ist schuldig. Über neun Jahre hinweg hat er seine Stieftochter missbraucht und vergewaltigt. „Es ist für uns absolut glaubwürdig, was sie (Nora L.) gesagt hat“, so der Richter. „Es gibt daran keinen Zweifel.“ Vier Jahre und neun Monate muss der 29-Jährige nun für seine Taten ins Gefängnis.
Zwischen 30 und 40 mal habe sie unfreiwillig Sex mit ihrem Stiefvater gehabt – das hatte Nora L. in ihrer Vernehmung angegeben. Die Staatsanwaltschaft hingegen sei zugunsten des 29-Jährigen nur von einer Vergewaltigung beim ersten Geschlechtsverkehr ausgegangen, bemerkt Joachim Dospil nach der Urteilsverkündung. Was absurd erscheint, begründet der Richter so: „Wir waren uns nicht sicher, ob Sie (der Angeklagte) erkennen konnten, dass Nora L. das nicht wollte.“
„Sexuelles Alltagsverhältnis“ zur Stieftochter
Zwischen Stiefvater und Stieftochter habe sich ein „sexuelles Alltagsverhältnis“, wie der Richter es nennt, entwickelt. In ihren Vernehmungen hatte Nora L. beispielsweise angegeben, sich mitunter selbst ausgezogen zu haben, um den Geschlechtsverkehr schnellstmöglich hinter sich zu bringen. Dospil dazu: „Da ist es möglicherweise so, dass Sie sich vorgestellt haben, dass sie das freiwillig gemacht hat.“
Auf welches Strafmaß Staatsanwalt und Verteidiger zuvor plädiert hatten, bleibt ungeklärt – denn die Öffentlichkeit wurde vom Vortag der Plädoyers ausgeschlossen. Selbst im Nachgang könne er darüber keine Auskunft geben, sagt Staatsanwalt Schubert auf SÜDKURIER-Nachfrage. Gegen das Urteil kann sowohl der Verteidiger des 29-Jährigen als auch die Staatsanwaltschaft innerhalb einer Woche Revision einlegen.
Bevor er die Verhandlung beendet, richtet sich Joachim Dospil ein letztes Mal an die Mutter des Mädchens, die in den Zuschauerreihen sitzt: „Es ist uns ein absolutes Rätsel, wie eine Mutter hier sitzen und behaupten kann, das sei alles erfunden.“