Seit genau zwei Jahren ist im Leben von Luise S. (Name von der Redaktion geändert) nichts mehr wie vorher. Aus der einst lebenslustigen Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand, beruflich erfolgreich war und sich selbst als Energiebündel bezeichnete, wurde eine schreckhafte Person mit depressiven Phasen, die nur noch ein Ziel hat: Den Alltag überstehen. So sagen es Freunde und Familie, so steht es im Opferbericht der Gerichtshilfe, so erzählt sie es selbst vor dem Konstanzer Amtsgericht.

Die Nacht vom 23. auf den 24. April 2021 veränderte alles. Denn Luise S. sagt aus, sie sei damals zweimal gegen ihren Willen angefasst und anschließend vergewaltigt worden – von ihrem guten Freund, dem 30-jährigen Angeklagten. Luise S. erzählt mit erst klarer, dann mit zitteriger Stimme: „Wir kennen uns aus unserer Jugend in der Nähe von Stuttgart. Seit 14 Jahren waren wir gut befreundet und wussten alles voneinander, aber bis zu dieser Nacht war noch nie was Sexuelles zwischen uns.“
Vor zwei Jahren habe der Freund gefragt, ob er für ein Wochenende von seinem Wohnort Hamburg zu ihr nach Konstanz kommen könne. „Wir wollten eine Radtour machen.“ Der Freund besuchte sie tatsächlich. Nach einem gemeinsamen Essen, auch mit den Eltern des Opfers, verabschiedeten diese sich. „Er und ich haben uns dann aufs Sofa gesetzt, Wein getrunken und uns unterhalten“, sagt die Geschädigte. Dann schlief sie ein.
„Ich habe gesagt, dass ich das nicht möchte“
„Ich bin wieder aufgewacht, weil ich gemerkt habe, dass ich an Brüsten und Bauch angefasst wurde, außerdem wollte er mich küssen. Ich habe gesagt, dass ich das nicht möchte. Er ist sofort zurückgewichen und für mich war das in dem Moment okay“, sagt die 29-Jährige. Sie schlief erneut ein. „Als ich das nächste Mal aufwachte, hatte ich keine Hose mehr an und sein Finger war in meiner Scheide. Ich habe ihn weggedrückt, aber er hat meine Arme über dem Kopf festgehalten.“
Sie habe gesagt, dass sie das nicht wolle und gar nicht bei sich sei. „Ich war die ganze Zeit wie weggetreten, habe mich körperlich schwer gefühlt. So ging es mir noch nie vorher, wenn ich Alkohol getrunken hatte“, sagt die 29-Jährige. Sie setzt sich bewusst mit dem Rücken zum Angeklagten, möchte ihn nicht anschauen.

„Ich habe mich dann in eine Decke gerollt und bin auf dem Sofa wieder eingeschlafen. Aufgewacht bin ich, als er Sex mit mir hatte.“ Sie habe sich gewehrt und sei in ihr Zimmer gegangen. Am nächsten Morgen kam die Erinnerung langsam zurück. „Ich habe ihm gesagt, dass ich das alles auf keiner Ebene wollte, und ihm klargemacht, dass er abreisen soll.“
Immer wieder fließen Tränen
Der Angeklagte, groß und schlank, sagt nichts zu den Vorfällen. Er macht von seinem Recht zu schweigen Gebrauch und zeigt wenig Regung. Ganz anders Luise S., die mehrfach weint. Sie hat wöchentliche Therapiesitzungen und spricht einer Gerichtshelferin gegenüber von Depression. Berührungen wie ein Schulterklopfen lassen sie zusammenzucken, sie verlor ihr Sicherheitsgefühl, sogar das Einkaufen falle ihr schwer. Diagnostiziert wurde eine posttraumatische Belastungsstörung.
Ihrer Arbeit als Physiotherapeutin kann Luise S. derzeit nicht nachgehen. Als ihr ehemaliger Arbeitgeber mit Kündigung drohte, wenn sie weiterhin viele Fehlzeiten habe, kam sie ihm zuvor. Mittlerweile zog sie wieder zu ihren Eltern. Zwei Freunde von Luise S., denen sie am Morgen nach den Vorfällen davon berichtet hatte, bestätigen als Zeugen vor Gericht ihre Version. Das Landeskriminalamt ermittelte über eine Gen-Analyse, dass tatsächlich sexueller Kontakt mit dem Angeklagten bestand.
Doch zwei Verfahrensbeteiligte haben Zweifel am Vorwurf der Vergewaltigung. Zum einen ist dies der Anwalt des Angeklagten. Er glaubt nicht an die Aussagefähigkeit des Opfers und bestellte eine Sachverständige. Als solche trat im Amtsgericht eine Psychologin auf, die an der Uni Köln Honorarprofessorin ist und nach eigener Aussage bundesweit Gutachten in Sachen Schuldfähigkeit erstellt.
Ihr Ansatz: Es müsse bewiesen werden, dass es so und nicht anders gewesen sein kann. „Es gibt eine Reihe von Auffälligkeiten in den Aussagen der Geschädigten“, so die Sachverständige. „Und eine posttraumatische Belastungsstörung heißt nicht automatisch, dass sie von einer Vergewaltigung stammt.“ Sie weist auch darauf hin, dass Gespräche mit Freunden sowie die Psychotherapie die Erinnerungen der Geschädigten im Nachhinein verfälschen könnten.
„Ich unterstelle nicht, dass sie absichtlich lügt, aber man kann auch unabsichtlich beeinflusst werden.“ Die Sachverständige kommt deshalb zu dem Schluss: „Die Aussagefähigkeit der Geschädigten ist nicht eindeutig und die Aussage somit nicht zu verwerten.“
Genauso sieht es der Anwalt des Angeklagten. „Es wird noch absurder“, sagt er und begründet: „Sie schläft wiederholt ein, obwohl sie merkt, dass etwas gegen ihren Willen geschieht. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Raum zu verlassen.“ Der Anwalt vermutet, dass das Geschehene einvernehmlich stattfand, Luise S. es aber im Nachhinein peinlich fand und sie seinen Mandanten deshalb der Vergewaltigung bezichtigt.
„Das ist harter Tobak!“
Dies macht den Leitenden Oberstaatsanwalt Johannes-Georg Roth wütend. „Sorry, aber diese Unterstellung ist harter Tobak“, entfährt es ihm. „Ich kann auch keine Beeinflussung der Aussagen erkennen, denn wir haben die beiden Zeugen gehört, denen sie sich als erstes und unverfälscht anvertraute.“ Roth plädiert für eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten für den nicht vorbestraften Angeklagten. Vera Eberz, Anwältin des Opfers, schließt sich an. „Meiner Mandantin wurde das Urvertrauen genommen“, sagt sie. „Jetzt ist ihr Leben ein Scherbenhaufen.“
Der Anwalt des 30-Jährigen dagegen möchte einen Freispruch. Nach längerer Beratung folgen Richterin Friederike Güttich und die beiden Schöffen dem Vorschlag des Oberstaatsanwalts. Zusätzlich muss der Angeklagte 8500 Euro Schmerzensgeld und die Verfahrenskosten bezahlen.
„Wir gehen davon aus, dass sich die Vorgänge wie angeklagt ereignet haben“, begründet Richterin Friederike Güttich. „Es gibt viele Anzeichen für die Glaubwürdigkeit der Geschädigten, gestützt durch den Rechtsmediziner.“ Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, innerhalb einer Woche kann der Angeklagte Berufung oder Revision einlegen. Der Hamburger Anwalt des Angeklagten sagt auf Nachfrage, er werde davon Gebrauch machen.