Das Lebenszeichen kommt aus der Gruft. Es sind die ersten Stunden nach dem verheerenden Erdbeben im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien. Zahide Sarikas schwankt zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Die Konstanzer Stadträtin der SPD bemüht sich um Kontakte zu Verwandten, Freunden und Bekannten in der betroffenen Region.

SPD-Stadträtin Zahide Sarikas zum krassen Nebeneinander der Lage in der Türkei und den Themen der Stadt: „Man muss das trennen, ...
SPD-Stadträtin Zahide Sarikas zum krassen Nebeneinander der Lage in der Türkei und den Themen der Stadt: „Man muss das trennen, auch wenn es manchmal schwer fällt.“ | Bild: Hanser, Oliver

Schließlich der Anruf einer Cousine zweiten Grades. Sie und ihre Familie – insgesamt sieben Menschen – seien verschüttet, aber es gehe ihnen gut. Es ist ein Wunder, denn die Familie lebt im achten Stockwerk eines Hochhauses in Hatay, das bei dem Beben am 6. Februar einstürzt.

In den folgenden drei Tagen bleiben Zahide Sarikas und ihre Cousine über das Handy in Kontakt, wobei man sich auf wenige Sprachnachrichten beschränkt. Es geht um einen möglichst langen Erhalt der Akku-Kapazität. Sie wird zur Lebensversicherung, denn so lässt sich die Familie orten. Drei Tage lässt sich die Verbindung halten. Dann bricht sie ab.

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Sarikas hat die frühere Heimat lange nicht mehr gesehen

Unterdessen hängt Zahide Sarikas in den Tagen nach dem Erdbeben so gut wie ununterbrochen am Handy. Ihre Familie und ihr Bekanntenkreis sind groß und der Kontakt ist vielleicht gerade deshalb besonders intensiv, weil die 58-Jährige schon als Dreizehnjährige mit ihren Eltern nach Deutschland kommt und seit acht Jahren nicht mehr in die Türkei reisen kann. Würde sie es tun, müsste sie mit ihrer Verhaftung rechnen. Das Auswärtige Amt, sagt sie, habe ihr dringend zum Verzicht auf Reisen in die Heimat geraten.

Also versucht sie in den Tagen nach dem Erdbeben, aus der Ferne über Telefonate oder die sozialen Medien herauszufinden, wer von ihren Leuten überlebt hat, wie es ihnen geht und ob sie eine Herberge gefunden haben. Das Ergebnis ist erschütternd. 17 Menschen aus ihrer Verwandtschaft haben die Katastrophe nicht überlebt, etliche andere werden vermisst.

Sahide Zarikas hat nicht vergessen, woher sie kommt: Das Bild zeigt ihr Geburtshaus in Elbistan/Gücük, wo sie bis zu ihrem zehnten ...
Sahide Zarikas hat nicht vergessen, woher sie kommt: Das Bild zeigt ihr Geburtshaus in Elbistan/Gücük, wo sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr lebt. | Bild: Zahide Sarikas

Stadträtin schätzt, dass mehr Menschen gestorben sind

Zahide Sarikas ist inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es sich nicht nur um eine individuelle Familientragödie handelt. Die Zahl der Toten lasse sich nicht abschätzen, liege aber deutlich über der in den Medien kursierenden 50.000. Sie gehe von 90.000 aus. Niemand könne zurzeit sagen, wie viele Tote noch unter den Trümmern liegen.

Zum Schrecken gesellt sich die Pein, denn Nichtstun ist Zahide Sarikas nicht gegeben. Wo immer Menschen in Not geraten, setzt sie sich ein – in jüngster Zeit vor allem für aus der Ukraine geflüchtete Menschen. Doch ausgerechnet in der Region, in der sie ihre Kindheit verbracht hat, sollen ihr jetzt die Hände gebunden sein? Akzeptieren kann sie das nicht, und deshalb organisiert sie mit Gleichgesinnten für den 1. April im Konstanzer Münster ein Benefizkonzert.

Zahide Sarikas und Bernd Konrad (Mitte) organisieren ein Benefizkonzert, mit dessen Erlös sie den Menschen im türkisch-syrischen ...
Zahide Sarikas und Bernd Konrad (Mitte) organisieren ein Benefizkonzert, mit dessen Erlös sie den Menschen im türkisch-syrischen Erdbeben-Gebiet helfen wollen. Im Gespräch mit SÜDKURIER-Redakteur Torsten Lucht wird das Ausmaß der Tragödien deutlich. | Bild: Hanser, Oliver

Offen räumt sie ein, dass es sich dabei auch um eine Schmerztherapie in eigener Sache handelt, denn die Hilfsbereitschaft von Zahide Sarikas hat Geschichte. Durch das Erdbeben, sagt sie, kommt in ihr vieles wieder hoch. Sie berichtet von Kindheitserinnerungen, wie ein Großonkel verbotene Bücher vor den Machthabern verstecken musste. Davon, wie 1978 Menschen ihrer Heimat von radikalen Fundamentalisten massakriert wurden.

Und sie ringt mit den Tränen, weil sie bei der Beisetzung ihres Mannes nicht dabei sein konnte. Er wollte in der Türkei beerdigt werden, wegen der Gefahr der Inhaftierung aber musste sie in Deutschland bleiben. Den Drang zu helfen führt sie darauf zurück, dass sie selbst in der Not Hilfe erfahren durfte. „Ich will etwas zurückgeben“, sagt sie. Deshalb ihr Engagement in der Politik, in der Gesellschaft, privat.

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Schicksal und Schaffen – das trennt Sarikas voneinander

Trotz der emotionalen Nähe zu den katastrophalen Zerstörungen durch das Erdbeben und der latenten Bedrohung durch das Erdogan‘sche Unterdrückungssystem nimmt sie zeitgleich an Debatten wie der Sanierung des Konstanzer Bahnhofsplatzes teil. Ein Witz? Eine Zerreißprobe? Nicht für Zahide Sarikas. „Man muss das trennen“, erklärt sie, letztlich sei‘s die Natur der Dinge. „Einer stirbt, einer kommt auf die Welt.“

Einer, der das Gespräch mit der Stadträtin weitgehend stumm verfolgt, ist Bernd Konrad – er ist einer der Mitorganisatoren und Mitwirkenden beim geplanten Benefizkonzert. Seine Geschichte ist eine ganz andere, und doch gibt es Parallelen zu der von Zahide Sarikas. Als Flüchtlinge kamen er und seine Eltern nach dem Weltkrieg nach Egg in Konstanz.

Bernd Konrad ist einer der Mitorganisatoren des Benefizkonzertes. Der Jazz-Musiker wird mit seiner Gruppe außerdem einen Teil des ...
Bernd Konrad ist einer der Mitorganisatoren des Benefizkonzertes. Der Jazz-Musiker wird mit seiner Gruppe außerdem einen Teil des Konzertprogrammes übernehmen. | Bild: Hanser, Oliver

Vertriebene aus Ostpreußen waren sie, damals gerade mal so gelitten. Er weiß auf jeden Fall, wie wichtig Hilfe ist und wie schwer die Trauer. Und so schweigt er auch, als Sahide Zarikas vom Ende ihrer Cousine und deren Familie berichtet. Eine Woche nach dem Erdbeben und vier Tage nach dem Verstummen des Handys werden sie aus den Trümmern des Hochhauses ausgegraben. Alle sind tot.