Sein Gang ist langsam, aber immerhin wird der Angeklagte von zwei Justizvollzugsbeamten gestützt. Die Fußschellen bieten wenig Bewegungsspielraum, wer ihn überschätzt, stolpert unwillkürlich. Deswegen die Stützen auf der rechten und linken Seite. Der Angeklagte wird zu einem Tisch in der Mitte des Raumes geführt.
Wenig später wird der zweite Beschuldigte hereingeführt, 41 Jahre alt, von kleiner Statur, der Kopf leicht gesenkt. Er trägt einen roten Trainingsanzug, als wolle er sich auf dem heimischen Sofa eine Serie im Fernsehen ansehen. Nicht, als ob sich an diesem Tag der Verlauf seiner absehbaren Zukunft entscheidet. Auch sein Gang ist verzögert und vorsichtig.
Am Tisch an der Seite des Gerichtssaals angekommen, lösen die Justizvollzugsbeamte die Handschellen. Ein winziges Stück Bewegungsfreiheit für die nächsten Stunden.
Eine lange Liste an Anklagepunkten
Beide Angeklagte saßen bislang in Untersuchungshaft. Der Staatsanwalt verliest die Anklage: Die Taten finden zwischen dem 13. und 25. August statt, manche erfolgen am selben Tag. Spielekonsolen, Elektronikgeräte, Elektronikzubehör, MP3-Player – all dies entwenden die beiden Täter aus den Mediamärkten Singen und Konstanz an mehreren Tagen, teilweise sogar aufeinanderfolgend in beiden Filialen am selben Tag. Der gestohlene Warenwert ist hoch: an einem Tag beträgt er 500 Euro, an einem anderen 791 Euro, an einem dritten etwa 1000.
Am 17. und 25. August kommt ein kurios anmutendes Diebesgut hinzu: sieben beziehungsweise sechs Packungen Eiscreme packen die Diebe in einem Supermarkt in Meßstetten in ihren Rucksack, ohne zu bezahlen. Was die beiden Männer mit dem Diebesgut vorhatten? Die Vermutung liegt nahe, dass sie die Waren verkaufen wollten. Dazu kam es jedoch nicht. Bei einer Wohnungsdurchsuchung beim Jüngeren der beiden werden beinahe alle Gegenstände gefunden. Nur das Eiscreme fehlt.
Lebensläufe könnten nicht unterschiedlicher sein
Beide Angeklagten stammen aus Polen. Sie kommen im Jahr 2022 nach Deutschland, um hier zu arbeiten, das haben sie gemeinsam. Viel mehr ist es nicht, was sie verbindet. Der Ältere der beiden wächst in ländlicher Umgebung in schwierigem Elternhaus auf. Der Vater trinkt häufig und schlägt seine Frau, auch ihn. Inzwischen habe er allerdings ein gutes Verhältnis zu Eltern und Geschwistern.
Der Angeklagte hat dies zuvor einem Mitarbeiter der Gerichtshilfe berichtet, Richterin Güttich liest aus dem Bericht vor. Er schließt die Volksschule ab und absolviert eine Ausbildung als Bäcker. In seinem Beruf findet er keine Arbeit, absolviert den Wehrdienst und arbeitet dann in der Landwirtschaft seiner Eltern. Später findet er Arbeit als angelernter Tischler, bleibt 15 Jahre lang dabei.
Schon in Polen wird er allerdings wegen Diebstahls verurteilt. Geldnot und Arbeitslosigkeit bleiben seine Lebensthemen. Er geht nach England, um dort Arbeit zu suchen und findet eine Anstellung in einer Glasfabrik. Wegen des Brexits muss er das Land verlassen, in Polen wird er wieder straffällig, kommt drei Monate in Haft. 2022 kommt er nach Deutschland, wieder auf der Suche nach Arbeit – sein späterer Komplize regt ihn dazu an.
Der 35-jährige Mitangeklagte hingegen wächst wohlbehütet in Polen auf, sein Vater arbeitet als Lastwagenfahrer, die Mutter ist zuhause, die älteren Geschwister schon bald außer Haus. Neun Jahre lang besucht er die Schule, schließt eine Lehre als Koch ab und arbeitet dann aber auf Baustellen. 2022 kommt er auf Empfehlung eines Bekannten nach Deutschland und will hier ein neues Leben beginnen. Seine Partnerin und die zwei kleinen Kinder kommen mit. Der Beschuldigte wird zu Fassadenarbeiten auf Baustellen angestellt.
Bei der Tat hatte er ein Messer in der Tasche
Wie kommt es dazu, dass die beiden Männer gemeinsam auf Diebestour gehen, und was planen sie mit ihrer Beute? Das wird im Verlauf des Prozesses vor dem Landgericht nicht richtig klar. Das Motiv des 41-Jährigen scheint Geldnot zu sein, nach wenigen Wochen verliert er seinen Job im Gartenbau, den er in Mühlheim an der Donau ausübt. Der 35-Jährige gibt vor Gericht an, dass sein älterer Bekannte die treibende Kraft hinter den Diebstählen war. Das bestätigt dieser. Aber stimmt es auch?
In den Mediamarkt-Filialen arbeiten die beiden mit verteilten Rollen, das beweisen ein Überwachungsvideo und der Detektiv der Filiale, der als Zeuge geladen ist. Der 35-Jährige ist mit Frau und Kindern sowie Kinderwagen unterwegs und hält so Wache in den Gängen. Sein Komplize packt derweil Waren aus und lässt sie im Rucksack verschwinden.
Ob den beiden bewusst ist, dass es in den Filialen Überwachungskameras gibt? Lange beschäftigt sich Richterin Güttich mit der Frage, ob der 35-Jährige wusste, dass sein Komplize ein Taschenmesser dabei hatte, um beim Diebstahl im Mediamarkt die Kartons zu öffnen. Das Mitführen der Waffe macht die Tat gefährlicher. Der 35-Jährige leugnet das Wissen, auf dem Bildmaterial des Elektronikmarktes ist das Messer allerdings zu erkennen.
Beide Männer müssen ins Gefängnis
Am Ende sprechen die Richterin und ihre beiden Schöffen ein klares Urteil aus. Der 41-jährige Angeklagte wird zu einem Jahr und zehn Monaten Haft verurteilt, sein jüngerer Mittäter zu zwei Jahren und zwei Monaten. Bewährung gibt es für keinen der beiden. Für die Angeklagten habe gesprochen, dass sie geständig gewesen seien, erläutert die Richterin.
Vollständig habe jedoch nur der Ältere der beiden gestanden, der 35-Jährige wollte nicht zugeben, von dem Messer gewusst zu haben. Wie kommt es, dass er die längere Strafe erhält, obwohl nach übereinstimmender Aussage die Initiative zu den Diebstählen von seinem Landsmann ausging? Richterin und Schöffen entscheiden dies auch anhand des Vorstrafenregisters des jüngeren Beschuldigten.
16 Mal ist er in Polen wegen verschiedener Delikte angeklagt und verurteilt worden, unter anderem wegen Einbruchsdiebstahls, Bedrohung, Körperverletzung und Fahrens unter Alkoholeinfluss. Insgesamt sechs Jahre saß er in seiner Heimat deshalb im Gefängnis. Nur der 41-Jährige hätte eine Chance auf eine Bewährungsstrafe gehabt, da sein Strafmaß unterhalb der Grenze von zwei Jahren liegt. Doch die Richterin sieht für ihn keine Perspektive: ohne Arbeit, ohne Familie.
Nach dem Urteilsspruch werden den Angeklagten die Handschellen wieder angelegt, sie werden aus dem Gerichtssaal geführt. Langsam, damit keiner stolpert, der 41-Jährige hält den Kopf wieder gebeugt. Eile ist nicht mehr geboten, an Zeit fehlt es den beiden nicht.