Die Fußfesseln schleifen über den Boden, als der Angeklagte von zwei Justizbeamten in den Verhandlungssaal am Konstanzer Amtsgericht geführt wird. In kleinen Schritten nähert der 34-Jährige sich seinem Platz, sein Blick haftet auf dem Boden, die Maske hängt am Kinn. Er setzt sich, verschränkt die Hände im Schoß und bleibt während der folgenden Stunden fast reglos sitzen.

Blick in den großen Verhandlungssaal am Konstanzer Amtsgericht. An diesem Tag sind immer drei Justizbeamte dabei und sorgen für Sicherheit.
Blick in den großen Verhandlungssaal am Konstanzer Amtsgericht. An diesem Tag sind immer drei Justizbeamte dabei und sorgen für Sicherheit. | Bild: Kirsten Astor

Dabei muss der 34-Jährige, der seit Oktober 2022 im Konstanzer Gefängnis in Untersuchungshaft sitzt, sich eine Reihe von Anklagepunkten anhören. Die Staatsanwältin wirft ihm vor, am 13. Oktober 2022 in Engen einen VW Touran gestohlen zu haben, mit dem er innerhalb einer knappen Woche rund 1500 Kilometer fuhr, obwohl er noch nie einen Führerschein besaß.

Kurze Zeit später soll er in einen Wohnwagen eingebrochen sein, der am Campingplatz Hegne stand, und ihn an das gestohlene Auto gehängt haben. Beide Fahrzeuge soll er bei Litzelstetten im Wald abgestellt und im Wohnwagen geschlafen haben. Außerdem wirft die Staatsanwältin ihm vor, am 18. Oktober 2022 an der Ecke Gartenstraße/Schobuliweg ein Paket aus einem nicht abgeschlossenen Lieferwagen gestohlen zu haben.

Unfall im Stadtteil Paradies, Festnahme in Konstanz

„Als der Paketbote Sie an seinem Auto sah, sprach er Sie an, doch Sie reagierten nicht, sondern setzten sich samt Paket in das gestohlene Fahrzeug. Als der Bote sich vor Ihre Motorhaube stellte, starteten Sie den Motor und spielten mit dem Gaspedal“, hält die Anklägerin ihm vor. Das kann als Drohung verstanden werden. Später habe er beim Einbiegen in den Fürstengutweg ein Straßenschild und einen geparkten Mercedes gerammt und sei weitergefahren, ohne sich um den Schaden zu kümmern.

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Richterin Heike Willenberg dröselt erstmal das Leben des 34-Jährigen auf und eine Dolmetscherin übersetzt, was der Angeklagte sehr einsilbig von sich gibt. Der Mann in hellroter Jogginghose und dunkelrotem Pulli lebte in Rumänien, bis er 14 Jahre alt war. Dann ging er allein zu Verwandten nach Italien und absolvierte dort laut eigenen Angaben eine viermonatige Ausbildung zum Kfz-Mechaniker.

Später tourte er durch Europa und suchte sich Arbeit als Mechaniker, Elektriker und auf dem Bau. Zuletzt habe er in einem Restaurant gearbeitet, dann aber Job und Wohnung verloren, sagt der Mann. Er kam nach Deutschland und wurde schon eine Woche später wegen der genannten Vorwürfe auf der Neuen Rheinbrücke vorläufig festgenommen.

Blick aus dem Konstanzer Amtsgericht zur benachbarten Justizvollzugsanstalt: Obwohl das Gefängnis so nah ist, wird der Angeklagte mit ...
Blick aus dem Konstanzer Amtsgericht zur benachbarten Justizvollzugsanstalt: Obwohl das Gefängnis so nah ist, wird der Angeklagte mit einem Transportwagen ins Gericht gebracht. | Bild: Kirsten Astor

Nach Verlesung der Anklage meldet sich Pflichtverteidiger Andreas Hennemann zu Wort: „Mein Mandant räumt alle Taten vollumfänglich ein“, sagt er und hofft, dass dies positiv angerechnet wird. „Bei einigen Punkten steht die Anklage auf dünnem Eis, weil es nur Indizien gibt, aber keine Beweise. Mein Mandant hätte Gründe gehabt zu schweigen, dann hätten wir ein viel aufwändigeres Verfahren gehabt.“

Zum Beispiel ist der Angeklagte auf zwei Blitzer-Fotos nicht eindeutig zu erkennen. Er gibt trotzdem zu, mit dem gestohlenen Touran in Stuttgart-Zuffenhausen, Walddorfhäslach (Kreis Reutlingen) und auf der Reichenau unterwegs gewesen zu sein.

„Mein Mandant räumt alle Taten vollumfänglich ein. Dabei hätte er Gründe gehabt zu schweigen“, sagt Pflichtverteidiger ...
„Mein Mandant räumt alle Taten vollumfänglich ein. Dabei hätte er Gründe gehabt zu schweigen“, sagt Pflichtverteidiger Andreas Hennemann. | Bild: Kirsten Astor

Die Knöllchen seiner rasanten Fahrten (einmal fuhr er 165 statt der erlaubten 120 Stundenkilometer) landeten bei der Besitzerin des Tourans. Sie ist die erste Zeugin an diesem Prozesstag und sehr aufgewühlt. Die 45-Jährige aus Engen sagt mit zitternder Stimme: „Ich bin ein Autofreak. Da es ein Sondermodell war, das nur noch zweimal in Deutschland unterwegs war, habe ich immer penibel darauf geachtet, dass es abgeschlossen war.“ Während der Angeklagte behauptet, der Schlüssel habe gesteckt, vermutet sie: „Ich muss ihn verloren haben.“

Bestohlene kämpft vor Gericht mit den Tränen

Nun hat der Touran einen Totalschaden. Die 45-Jährige kämpft mit den Tränen, als sie sagt: „Das war mein Traumauto und es ist nicht mehr ersetzbar. Der ideelle Wert ist für mich sehr hoch, zumal am Schlüsselbund ein Talisman meines Großvaters hing.“

Der Angeklagte schaut auf den Tisch und sagt: „Den habe ich weggeworfen.“ Trotzdem gibt die Geschädigte dem Angeklagten die Möglichkeit, sich zu entschuldigen. „Ich will endlich einen Schlussstrich ziehen“, begründet sie.

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Ganz anders reagiert der zweite Zeuge, der 46-jährige Wohnwagenbesitzer. Obwohl der Angeklagte in sein Gefährt einbrach und darin lebte, sagt er: „Für meine Frau und mich ist wichtig, dass der Wohnwagen wieder da ist und wir keinen größeren Schaden erlitten haben.“ Er lächelt den Angeklagten sogar an, als der sagt: „Es tut mir leid, ich habe das nicht aus Boshaftigkeit getan, sondern meine Situation erforderte dies.“

Vermutlich aus demselben Grund stahl der 34-Jährige auch das Paket aus dem nicht verschlossenen Paketwagen. Denn dies war die Kochbox eines Lieferdienstes, enthalten waren Lebensmittel und Rezepte. „Er hatte wohl Hunger“, sagt Andreas Hennemann, der gleich hinterherschiebt: „Das rechtfertigt natürlich nicht seine Taten.“ Zumal sich vor Gericht herausstellt, dass der Angeklagte dem jungen Paketboten einen bleibenden Schrecken einjagte.

Paketbote sagt, dass er Angst um sein Leben hatte

„Mein Job ist es, Pakete zu verteilen – und nicht, mein Leben zu riskieren“, sagt der Bote. „Für eine Lieferung im Wert von rund 40 Euro habe ich mich in Gefahr gebracht, als ich mich vor die Motorhaube des Angeklagten stellte. Ich hatte das Gefühl, wenn ich nicht zur Seite gehe, überfährt der mich. Dabei braucht mich mein dreijähriges Kind noch.“

Zwar entschuldigt der Angeklagte sich auch bei dem Boten, doch auf dessen entscheidende Frage hat er keine Antwort: „Warum haben Sie das Paket gestohlen?“, will er wissen. „Das kann ich nicht sagen. Das Paketauto war einfach da“, übersetzt die Dolmetscherin.

Gelegenheiten und Zufälle: Es verdichtet sich im Lauf des Vormittags der Verdacht, dass der Angeklagte sich ohne Plan durchs Leben hangelt. Auch das Verbüßen von Strafen in vielen Ländern Europas (darunter Diebstahl, Schwarzfahren, Handel mit gestohlenen Gegenständen und mit Betäubungsmitteln) lässt dies vermuten.

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Letztlich plädiert die Staatsanwältin auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten und ergänzt: „Diese Strafe kann nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden. Dafür bräuchte es eine günstige Sozialprognose.“ Richterin Heike Willenberg stuft das beantragte Strafmaß als „eher milde“ ein. Trotzdem folgt sie diesem Vorschlag nach der Beratung mit zwei Schöffinnen.

Auch sie redet dem Angeklagten ins Gewissen: „Ich sehe es kritisch, dass Sie Ihren Lebensunterhalt durch Straftaten bestreiten. Ich wünsche mir, dass Sie die Haft nutzen, um darüber nachzudenken, ob Sie immer wieder Menschen Dinge wegnehmen müssen“, sagt Heike Willenberg. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.