Eine Dankesrede vorbereiten? Steht noch auf ihrer Liste, sagte Maria Brendle aus Mühlhausen-Ehingen einige Tage vor der Oscar-Verleihung. Da war das ganz große Scheinwerferlicht schon greifbar nah und die Aufregung wuchs. So häufig kommt es dann doch nicht vor, dass man im Dolby Theatre in Los Angeles auf der Bühne steht und vor gesammelten Stars der Szene erklären darf, wem das preisgekrönte Werk auch zu verdanken ist. Wobei: Dass Preisträger aufstehen, ihre Lieben umarmen und zur Bühne laufen, wurde in diesem Jahr erstmals abgekürzt. Die Preisverleihung wurde bei acht Kategorien kurz vor der dreistündigen Show aufgezeichnet und später verkürzt eingespielt.
„Da bin ich unfassbar stolz und dankbar“
Betroffen war auch die Kategorie des besten Kurzfilms – und damit Regisseurin Maria Brendle mit ihrem Werk „Ala Kachuu – Take and Run“. So erfuhr sie schon kurz vor der live-übertragenen Show, dass sie keine Dankesrede halten musste. Musste? Ja, denn an große Bühnen müsse sie sich erst gewöhnen, sagt die Regisseurin am Morgen danach. Statt ihrem Kurzfilm gewann „The Long Goodbye“ aus Großbritannien, wie Zuschauer gegen 3.42 Uhr deutscher Zeit zu sehen bekamen.
Eine Enttäuschung? Nicht wirklich. Denn jetzt spreche die ganze Welt über Brautraub in Kirgistan. „Das habe ich erreicht. Da bin ich unfassbar stolz und dankbar“, schildert sie im Video-Interview nach einer sehr kurzen Nacht. Schließlich galt es nach der Live-Show, mit den Hollywoodstars zu feiern. Will Smith, der mit seiner Ohrfeige für einen Eklat sorgte, sei übrigens in bester Feierlaune gewesen. Denn er erhielt einen der begehrten Goldjungen.
Wichtiger als die Gesellschaft von Hollywoodstars sei ihr aber die Zeit mit den Teammitgliedern hinter „Ala Kachuu“, wie Maria Brendle betont. Denn die seien ihre Superstars. „Es war ein wahnsinnig tolles Wiedersehen.“

Wer hätte gedacht, dass dieses Filmprojekt die 38-Jährige zu den Oscars führen würde? Maria Brendle selbst erzählte in Interviews immer wieder, wie schwer ihr die Vorstellung falle, tatsächlich zu gewinnen. Noch im Februar schilderte sie: „Ich werde mein Leben lang eine Oscar-nominierte Regisseurin sein, das muss ich erstmal realisieren.“ Schon die Platzierung ihres Films in der engeren Auswahl sei ein riesiger Erfolg gewesen. Damit gaben auch alte Hasen des Filmgeschäfts, die der Oscar-verleihenden Academy angehören, ihrem Werk den Stempel „empfehlenswert“ – und ermöglichten dadurch ein ganz neues Publikum. „Der Film hat jetzt viel mehr Chancen, gezeigt zu werden“, sagte Brendle.
Unzählige positive Rückmeldungen von Kirgisen bestätigen ihre Arbeit
Erste Effekte zeigen sich in der Region: Inzwischen läuft der Film in Schweizer Kinos. Auch in Brendles alter Heimat Singen kam der Film vergangene Woche endlich auf die große Leinwand, für die er eigentlich geschaffen wurde. Eine der meistgestellten Fragen sei, ob sie den Film länger machen könne, sagte Maria Brendle in Singen, wo sie live zur Filmvorführung zugeschaltet wurde. Schließlich sei das Ende offen, irgendwie unbefriedigend. Das sei Absicht, denn die Protagonistin soll stellvertretend für viele Schicksale stehen.
Das Aufbrechen der Tradition werde sicher noch Zeit brauchen, wie sie vor wenigen Wochen erklärte: „Das ändert sich leider nicht so schnell. Es gibt noch viel zu tun bei der Rolle der Frau weltweit.“ Sie erhalte aber unzählige positive Rückmeldungen von Kirgisen.
Visitenkarte für künftige, längere Projekte
Bei aller Bescheidenheit wirkt der Stempel einer Oscar-Nominierung natürlich auch für die Filmemacherin – Gewinn hin oder her. Schon mit ihrem Erstlingswerk nach dem Studium in Zürich war Maria Brendle im Rennen um einen Oscar. Jetzt empfahl sie sich erneut und mit Nachdruck. Der Kurzfilm sei auch eine Art Visitenkarte – und den Umständen geschuldet gewesen. „Wir konnten 13 Tage bezahlen damals, mehr war nicht drin.“ Doch von den Einnahmen eines Kurzfilms könne man nur schwer leben. Umso dankbarer sei sie dafür, dass die Academy dem Kurzfilm in drei Kategorien eine so große Bühne schaffe.
Ihr nächstes Ziel: ein Langspielfilm. Dafür habe sie einige Ideen sowie gute Ratgeber an ihrer Seite. Und ein positiver Effekt der Oscar-Nominierung sei: „Jetzt werden die Leute meine Drehbücher eher lesen.“
Was sie zuhause erwartet? Keine Ahnung
Doch erstmal brauche sie Ruhe nach anstrengenden Monaten im Oscar-Rennen. Besonders nach der Nominierung im Februar war der Trubel groß um sie und Produzentin Nadine Lüchinger von der Zürcher Produktionsfirma Filmgerberei.

Nun werde sie erstmal ihren geliehenen teuren Schmuck zurückgeben und gemütlich in Jeans statt Festkleid mit der Crew zu Abend essen. Was nach dem Heimflug nächste Woche folgt? „Ich habe keine Ahnung, was mich zuhause erwartet.“ Doch die Filmemacherin ist durch die Erfahrungen in Los Angeles einmal mehr motiviert: „Ich will auf jeden Fall nachlegen. Man wird ja auch schnell wieder vergessen.“
Film mit Empathie statt Kneifzange: Eine Kritik
Brautraub ist ein ähnlich schwieriges Thema wie Genitalverstümmelung. In beiden Fällen führen Vorstellungen von Ehre und Tradition zu drastischen Einschnitten im Leben junger Frauen. Und in beiden Fällen sind es viel zu oft ältere Frauen, die selbst unter diesen Traditionen gelitten haben und später Jüngeren das gleiche antun. „Du musst dir ein glückliches Leben mit Tränen verdienen“, sagt eine alte Frau im Kurzfilm „Ala Kachuu – Take and Run“ zur 19-jährigen Sezim. Das sei bei ihnen allen so gewesen. Sezim wollte in Kirgistans Hauptstadt Bischkek studieren, bevor sie von einer Gruppe junger Männer geraubt wurde. Sie wird in ein Auto gezerrt und aufs Land verschleppt. Dort treffen weite, idyllische Gebirgs-Landschaften auf enge, beklemmende Räume, in denen sich noch beklemmendere Szenen abspielen. Denn es scheint keinen Ausweg für die 19-Jährige zu geben. Ihre Familie kommt zwar zu Besuch, wird sie aber nicht mit nach Hause nehmen. Sonst würde die Ehre verletzt.
Solche Momente machen sprachlos. Doch es geht in dem Oscar-nominierten Film der aus Mühlhausen-Ehingen (Kreis Konstanz) stammenden Regisseurin Maria Brendle ohnehin nicht um Sprache. Denn der Zuschauer versteht kein Wort, wenn er nur zuhört. Die Protagonisten sprechen kirgisisch, Untertitel helfen beim Verständnis. Doch viele Szenen sprechen für sich. Etwa wenn die zu Beginn liebevoll gefütterte Ziege von der neuen Familie geschlachtet wird. Ein Sinnbild. Es braucht auch keine Worte, wenn der künftige Ehemann Dayrbek seiner geraubten Braut nachts schüchtern ein Geschenk überreicht – oder ihr wenig später verzweifelt hinterher rennt.
In 38 Filmminuten zeichnet Maria Brendle die grausame Tradition nicht schwarz und weiß mit Opfern und Tätern, sondern in vielen Grautönen. Denn auch Dayrbek ist in der Tradition gefangen. Damit schafft die Filmemacherin nicht nur, den relativ langen Kurzfilm wie mit einem Wimpernschlag vergehen zu lassen. Sie bringt auch ein schwieriges Thema ohne mahnenden Zeigefinger auf die große Leinwand und regt zum Nachdenken an. War es Zufall, dass die alte Frau einen Autoschlüssel in der Wäsche übersehen hat und Sezim somit die Flucht ermöglichte? Oder sind Frauen der Schlüssel für eine bessere, selbstbestimmte Zukunft? 2009 war es der Film „Wüstenblume“, der auf Genitalverstümmelung aufmerksam machte. Vielleicht ist es 2022 „Ala Kachuu – Take and Run“, der eine ähnlich grausame Tradition ins Scheinwerferlicht stellt – und damit einen Veränderung anstößt. Eine Oscar-Nominierung hilft dabei weiter.