Kirgistan ist weit weg. So weit weg, dass viele nicht wissen, ob das Land nun Kirgistan oder Kirgisien heißt. Geschweige denn, wo es genau liegt. Doch für Maria Brendle aus Mühlhausen-Ehingen ist das Land zwischen Kasachstan und China ganz nah. Vier Jahre lang hat sie sich mit dem dortigen Brauch des Brautraubes beschäftigt, nachdem ein Freund ihr nach einem Wanderurlaub davon berichtete. Dort werden also wirklich Frauen geraubt, um sie mit einem Fremden zu verheiraten? Die 36 Jahre alte Filmemacherin konnte es anfangs nicht glauben. Und sie wunderte sich, dass sie davon noch nicht gehört hatte. Das will sie ändern. Jetzt ist ihr Film „Ala Kachuu“ fertig und wird international auf Festivals gezeigt.

Frauen werden entführt. „Und dann ist das Leben vorbei.“
Der Weg dahin war lang und steinig, wie Maria Brendle erzählt. Für ihr Filmstudium zog sie nach dem Abitur von Mühlhausen nach Zürich, doch noch heute ist sie regelmäßig in ihrem Elternhaus. Dort erzählt sie von der Recherche, ersten Kontakten, einigen Überraschungen und dem finalen Ergebnis. Nach den Erzählungen des Freundes habe sie das Thema Brautraub nicht mehr losgelassen, sagt Brendle. Beklommen habe sie daran gedacht, mit welch einschränkender Angst kirgisische Frauen leben müssen. „Diese Willkür, dass die nächste Frau, die um die Ecke kommt, geraubt wird.“
Brautraub ist in Kirgistan zwar theoretisch verboten, praktisch aber an der Tagesordnung: Die Dunkelziffer sei sehr hoch, doch bis zu zwei Drittel der Frauen werden auf diese Weise zu einer Hochzeit gezwungen. „Es wird mit einer Tradition gerechtfertigt“, sagt Maria Brendle. „Und dann ist das Leben vorbei“, schildert sie drastisch. Sobald eine junge Frau eine Nacht außerhalb ihres Elternhauses verbringt, gelte sie als entehrt. Deshalb würden die Brauteltern dann häufig ihr Einverständnis geben. „Wenn man die Geschichten und Schicksale hört, klingt das unglaublich. Es klingt wie im Film.“
ALA KACHUU - Tanke and Run TRAILER deutsch
Keine Dokumentation, kein erhobener Zeigefinger
„Ala Kachuu“ bedeutet auf kirgisisch Brautraub. Der Film soll laut Maria Brendle aber kein erhobener Zeigefinger sein. „Ich wollte zeigen, wie das typischerweise abläuft. Doch wir machen einen Spielfilm, keine Dokumentation.“ Brendles Recherche begann zuhause am Computer, sie knüpfte Kontakte zu Kirgisinnen und Frauenrechtsorganisationen. Für das Drehbuch reiste sie vor zwei Jahren erstmals nach Kirgistan: „Diese Kultur ist einfach eine andere“, sagt sie, deshalb habe sie sich vor Ort einen Eindruck machen wollen.
Regisseurin erlebte selbst drei Hochzeiten
Denn der Film soll authentisch sein: Während es am Schreibtisch beim Drehbuchschreiben gut klingt, wenn Frauen sich beim Abwasch von Geschirr unterhalten, zeigt sich vor Ort, dass es häufig kein fließendes Wasser gibt. Ein solches Gespräch wäre also unrealistisch. Außerdem erlebte Maria Brendle drei Hochzeiten, Teile davon ließ sie in ihre Geschichte einfließen. So sei es beispielsweise Tradition, dass die Schwiegermutter der Braut ein weißes Kopftuch umlege als Zeichen der Hochzeit. Bei einem Brautraub wehre sich eine Frau häufig dagegen.
Für die Drehorte klopften sie an viele Türen – und lernten kirgisische Gastfreundschaft kennen
Das Land habe auch gute, sehr liebenswürdige Seiten: „Die Kirgisen sind unglaublich gastfreundlich.“ Ihre Drehorte fand Maria Brendle, indem sie mit ihrer Assistentin durch die Gegend fuhr und sich geeignete Hütten anschaute. Gemeinsam klopften sie und fragten, ob sie sich die Hütte ansehen und dort drehen dürfen. „Auch wenn wir schon in 20 Häusern vorher waren: Du musst zumindest ein Stück von dem Essen nehmen, das sie dir anbieten. Sonst ist das unhöflich.“ Manche Familie habe ihnen ihr letztes Stück Brot angeboten oder die Süßigkeiten der Kinder – aber erst, nachdem die Schuhe ausgezogen wurden. „Da lernt man eine Kultur wirklich kennen.“
Ein langer Kurzfilm mit Untertiteln – denn die wenigsten sprechen die Sprache
Es steckt viel von Kirgistan im Film: Nicht nur die Geschichte und vermeintliche Tradition ist kirgisisch, auch die Drehorte, Crew, Besetzung und Filmsprache sind es. Wenn es Dialoge gebe, helfen Untertitel beim Verständnis. Doch häufig würde die Handlung für sich sprechen, sagt die 36-Jährige. Eine Schweizerin, die in Kirgistan lebte und sich auskannte, half Maria Brendle. „Ohne sie wäre das nicht möglich gewesen“, denn nur wenige Kirgisen würden Englisch sprechen. Zwischendurch erlebten die Filmemacher eine Zitterpartie: Fünf von sieben Drehorten seien zwischen Casting und Dreharbeiten geplatzt.
Crew brauchte Nerven: Fünf von sieben Drehorten kurzfristig abgesagt. Also begann die Suche erneut
„Du brauchst wirklich Nerven“, sagt die 36-Jährige. Für den neuen Drehort holte eine Assistentin erst den Besitzer von einer Hochebene, um dann festzustellen, dass die Hütte leer stand. Also kümmerte sich ein Ausstatter darum, das Haus einzurichten. „Wir haben dann per Videotelefonat geklärt, welche Tapete passt“, erinnert sich die Filmemacherin. Das habe aber nur funktioniert, wenn es nicht regnete – sonst war die Internetverbindung zu schlecht.

Theoretisch hätte die Filmemacherin mit ihrer Idee einen typischen Fernsehabend füllen können. Statt 90 Minuten entschied sie sich aber für einen kürzeren Film, „Ala Kachuu“ dauert knapp 40 Minuten. Anders als bei Kino- oder Fernsehfilmen sind Kurzfilme auf die Erlöse aus Festivaleintritten und Online-Abrufen angewiesen. „Ich bin der kreative Part“, erklärt Brendle, sie schrieb das Drehbuch und führte Regie. Für die Finanzierung habe sie eine Produktion finden müssen, die sich beispielsweise um Fördergelder bemühe.
Möglich nur dank Fördergelder und Crowdfunding
Der Film konnte letztlich nur dank Crowdfunding realisiert werden: Nachdem die Zürcher Filmstiftung bereits eine Summe von 85.000 Franken zugesagt hatte, fehlten noch 55.000 Franken. Online gaben Unterstützer sogar 5000 Franken mehr – ein großer Erfolg für Maria Brendle. Da habe sie einmal mehr gesehen, dass das Thema Brautraub wichtig sei und Menschen bewege. Dass mit ihr noch viele weitere Menschen an die Vision ihres Filmes glauben.
Filmemacherin darf von einem Oscar träumen
Schon ihr erster Film war ein Erfolg, erinnert sich Maria Brendle. „Blinder Passagier“ war 2013 ihr Abschlussfilm nach fünf Jahren Studium. Und die Resonanz sei überwältigend gewesen: Wenige Monate nach der Premiere in Bern habe sie einen ersten Preis dafür gewonnen. Es folgten weitere und Einladungen für dutzende Festivals, Brendle reiste unter anderem nach Shanghai und nach Chicago. „Der Film wurde weltweit auf über 70 Festivals gezeigt“, sagt sie. Und schon damals durfte sie kurz von einem Oscar träumen: Wenn ein Film bei bestimmten Festivals gezeigt wird, kann er für den wichtigsten Filmpreis nominiert werden. Brendles Film lief auf einem solchen Festival, wurde jedoch nicht nominiert. Doch welchen Lebenstraum hätte man noch, wenn ein Oscar schon zu Beginn der Karriere gelingt? „Ich will mich von Film zu Film steigern“, sagt sie.
Corona macht es ihr schwerer. Den ersten Preis gewann sie auf der Couch
Die Startbedingungen für ihr neues Werk sind ungleich schwerer. Viele Film-Festivals wurden wegen der Corona-Pandemie abgesagt, einige finden online statt. Die erste Etappe ist aber bereits genommen: „Ala Kachuu“ gewann den ersten Preis beim Rhode Island International Film Festival nahe New York – und das ist ebenfalls Oscar-qualifizierend. „Als ich meinen Namen und meinen Film gehört habe, bin ich ausgeflippt“, sagt Maria Brendle strahlend. Statt wie sonst in die USA zu reisen, erlebte sie die Weltpremiere vor rund vier Wochen auf der heimischen Couch. Für die nächste Zeit sind weitere Festivals geplant. Auch eine Veranstaltung in der Region kann Maria Brendle sich vorstellen. Damit noch mehr Menschen eine Vorstellung von Kirgistan bekommen.