Es regnet in Strömen, als die beiden Männer über den Platz laufen und sich dabei unterhalten. Ein anderer Mann trägt von der anderen Richtung einen schweren Korb mit Salatköpfen über den Platz, ein Pärchen kreuzt den Weg der beiden Männer. „Fertig!“, ertönt es plötzlich am Klosterhof St. Gallen und alle Schauspieler gehen wieder zurück an ihre Position, um die Szene in wenigen Minuten erneut genau so abzuspielen.

Im Klosterviertel finden noch bis 6. September Dreharbeiten zum schweizerischen Kinofilm „Friedas Fall“ statt. Die Regie führt Maria Brendle, Oscar-nominierte Regisseurin aus Mühlhausen-Ehingen. Der Film basiert auf der wahren Geschichte der jungen Näherin Frieda Keller, die vergewaltigt wird und 1904 schließlich ihren fünfjährigen Sohn umbringt. Im St. Galler Großratssaal wird Keller zuerst zum Tode verurteilt und dann begnadigt. Gespielt wird die Rolle der Frieda Keller von Julia Buchmann. Für sie ist es die erste Hauptrolle in einem Kinofilm.
„Es ist eine tolle Rolle, die bunt und vielschichtig ist. Frieda ist eine Täterin, aber sie ist auch ein Opfer und wird zur Kämpferin“, sagt die 28-Jährige beim Setbesuch. Frieda sei eine junge Frau, die viele Träume habe, Hoffnung und Lebenswille. „Dann wird sie Opfer eines Übergriffs, bekommt ein uneheliches Kind und gerät in einer Notsituation.“ Buchmann war schon in TV-Filmen wie „Sechs auf einen Streich – Die Gänseprinzessin“, „Tatort – Krieg im Kopf“ oder „Malibu – Camping für Anfänger“ zu sehen.

Aktuelles Thema historisch aufbereitet
Max Simonischek spielt den jungen Anwalt Arnold Janggen, der wenig Erfolg bei der Verteidigung seiner Mandantin sieht. „Das Thema des Films ist relativ modern“, erklärt Simonischek, der aus Filmen wie „Hindenburg“ oder „Die göttliche Ordnung“ bekannt ist. „Es geht um die Gleichheit vor dem Gesetz. Zwar haben wir juristisch eine Gleichheit bei den Geschlechtern, gesellschaftlich aber noch lange nicht. Im Film wird das historisch aufbereitet. Der Zuschauer kann den Fall aus der Distanz bewerten und die Brücke zu heute selbst schlagen“, ordnet der 40-Jährige Schauspieler den Fall ein.

Auch die Regisseurin Maria Brendle sieht es so. „Wir versuchen, eine Brücke zur heutigen Zeit zu schlagen. Ich habe im Rechercheprozess und in der Figurenentwicklung gemerkt: Irgendwie kenne ich das von heute trotzdem“, sagt sie. „Man merkt, dass viele Themen, gerade als Frau, heute noch mitschwingen, wenn auch nicht mehr ganz so extrem. Wir sind auf einem besseren Weg, aber wir sind noch nicht so weit, wie wir sein könnten oder sollten.“
Steckdosen haben im Film nichts zu suchen
Die Vielschichtigkeit des historischen Falls aufzeigen, samt all der Bezüge, die er bis heute hat, ist eine Herausforderung. Doch ein historischer Film habe auch ganz andere Stolpersteine. Steckdosen zum Beispiel. „Wir haben eine wahre Geschichte, das heißt, viel Recherche war nötig, um auch authentisch sein zu können: Kostüme, Umgangsformen, die Sprache“, erklärt Brendle. Umso mehr freue sie sich, dass das Team im Großratsaal drehen könne, wo die Gerichtsverhandlung damals stattgefunden habe. Dabei seien nur die modernen Errungenschaften ein Problem. „Lichtschalter, Steckdosen, Heizungen: All diese Dinge, die kaschiert werden müssen. Darauf zu achten, ist nicht immer einfach“, sagt die 39-Jährige.
Umso mehr freue sie sich, ein tolles Team zu haben, das sich darum kümmert. So könne sich die Regisseurin auf die Geschichte konzentrieren – und ihren ersten Kinofilm, nachdem ihr Kurzfilm „Ala Kachuu – Take and Run“ im vergangenen Jahr für einen Oscar nominiert war. Im Mittelpunkt steht Frieda Keller und ihr tragisches Schicksal – aber auch die tragende Rolle, die Männer und die damaligen gesellschaftlichen Vorstellungen hatten. „Ein großer Teil des Films ist, dass Männer über Frauen urteilen. Das ist auch das, was Frieda Keller passiert: Männer, die sie beurteilen und später auch verurteilen“, erklärt Brendle. Es gehe darum, wie man mit diesen Vorurteilen umgehe, aber auch mit dem Hinterfragen bestimmter Sachverhalte und dem genauen Hinschauen.
Dabei habe ein Mann die Frau erst in die Notlage gebracht: Der Fall sei aus dem Ruder gelaufen, weil man nicht über den Missbrauch und das uneheliche Kind habe reden wollen oder können. Das Thema sei auch mit Scham verbunden gewesen. Brendle meint, von diesem Fall könne man einiges für die heutige Zeit mitnehmen. „Wir sollten lernen, zuzuhören und Hilfestellung zu leisten. Und auch als Gesellschaft nicht eine verachtende Seite aufzubauen, sondern versuchen, Menschen aufzufangen, bevor sie in Notlagen kommen“, so die Filmemacherin.

Kann man für diese Frau Verständnis haben?
Das Thema, die Geschichte und Frieda selbst seien laut Brendle faszinierend und interessant. Sie selbst habe bei der Recherche eine zweideutige Haltung entwickelt. „Man fängt an, eine Bindung und Beziehung zu dieser Figur aufzubauen. Man hat irgendwie Verständnis für diese Figur. Dennoch sagt man sich immer wieder: Nein, das geht nicht. Sie hat doch ein fünfjähriges Kind umgebracht. Diese Ambivalenz mitzumachen fand ich sehr spannend“, erklärt Maria Brendle.

Stefan Merki, der den gesetzesloyalen Staatsanwalt und Gefängnisdirektor Walter Gmür spielt, habe durch die vielen Themen, die der Film aufgreife, viel Respekt vor dem Projekt und auch vor der Regisseurin Maria Brendle. „Das Drehbuch ist einfach gut geschrieben und Maria kann es perfekt inszenieren. Sie hat ein gutes Gespür für die Leute und ist sehr nahbar. Es macht richtig Spaß mit ihr“, schwärmt der 60-jährige, der vor allem durch seine Tatort-Rolle als Polizeipräsident Dr. Kaiser bekannt ist. So sei auch das Drehen im Dauerregen kein Problem.