Vor Gericht geht es in den meisten Fällen um folgenschwere Entscheidungen. Aber das Urteil, das Richter Arno Hornstein gegen einen 33-jährigen Angeklagten fällen musste, war selbst für ihn „ein Grenzfall“, wie er in der Begründung seines Urteils betonte.

Der Angeklagte soll Ende März 2019 einem damals 76 Jahre alten Mann, während dieser im Radolfzeller Bahnhof auf einen Zug wartete, „völlig ohne Grund und unvermittelt zwei Faustschläge in den Nacken versetzt“ haben, sodass dieser zu Boden ging und eine Platzwunde an der Stirn, sowie eine Verletzung am Knie erlitt, so die Anklage.

Zweifel an der Schuld des Angeklagten hatte das Konstanzer Landgericht keine, wohl aber an dessen Schuldfähigkeit. Die Unterbringung in der Psychiatrie wurde auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt.

Der Angeklagte kann sich nicht erinnern

Denn wie in der Verhandlung deutlich wurde, hat der heute 33-Jährige schon sein halbes Leben mit Drogen und einer psychischen Erkrankung zu kämpfen. „Mit 13 habe ich angefangen zu kiffen, mit 21 kamen Ecstasy und Amphetamin dazu“, berichtete der Angeklagte.

An den Tathergang will er sich nicht erinnern können. „Ich kann mich nicht beziehen auf das was passiert ist. Ich kann mich daran nicht erinnern, aber es tut mir sehr Leid für den Mann“, betonte er.

Einer der sich wünscht, er könnte die Erinnerung an jenen Abend vergessen, ist das heute 78-jährige Opfer der Tat. Trotzdem war er im Gerichtssaal anwesend und schilderte noch einmal, wie er den Tathergang erlebt hat. „Ich stand um kurz vor 18 Uhr auf dem Bahnsteig und wartete auf den Zug nach Konstanz, als plötzlich ein Mann mit schnellen, lauten Schritten auf mich zustürmte und schrie „Du auch!“, beschrieb das Opfer seine Begegnung mit dem 33-Jährigen.

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Im vorbeigehen soll er dann dem 78-Jährigen mit der geballten Faust in den Nacken geschlagen haben. Als dieser versucht habe sich an einem Geländer festzuhalten, um nicht zu fallen, soll der Angeklagte erneut zugeschlagen haben. „Er hat scheinbar gewollt, dass ich stürzte“, so die Schilderung des Geschädigten. Da er zunächst keinen Rettungsdienst in Anspruch nehmen, sondern lieber heimfahren wollte, begleitete ihn ein Helfer in den Zug und versuchte dort die Blutung an der Stirn zu stoppen.

Der Schock sitzt noch immer tief

Früher sei er regelmäßig mit dem Zug nach Radolfzell gefahren, berichtet der Senior. Seit dem Vorfall trete er diese Reise nicht mehr so gerne an. Zu tief sitze der Schock. Der Angeklagte habe nach dem Angriff ebenfalls den Zug nach Konstanz genommen und wurde dort am Hauptbahnhof festgenommen. Der Polizeihauptmeister, der bei diesem Einsatz die Verantwortung hatte, habe bei dem 33-Jährigen an jenem Abend keine Hinweise auf Alkohol- oder Drogeneinwirkung feststellen können.

Der hinzugezogene Sachverständige, Professor Hermann Ebel von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Ludwigsburg, war sich sicher, dass die Tat im Zusammenhang mit der psychischen Krankheit des Angeklagten stand.

Er diagnostizierte bei ihm eine schizoaffektive Störung. Diese beinhaltet unter anderem Wahnvorstellungen. Wie der Sachverständige berichtete, gehe aus älteren Arztberichten hervor, dass sich der Angeklagte unter anderem schon für einen Amerikanischen Staatsbürger im Auftrag des Geheimdienstes gehalten habe. Auch fänden sich Hinweise darauf, dass er schon Stimmen gehört habe, so der Sachverständige.

Angeklagter hat eine lange Vorgeschichte

Zwischen 15 und 20 Klinikaufenthalte habe der 33-Jährige deshalb bereits hinter sich. Lang sei auch die Liste mit Vorstrafen, wobei es meist um Diebstahl oder Sachbeschädigung ging. Körperverletzung habe er sich vor dem Vorfall in Radolfzell noch nie zu Schulden kommen lassen.

Trotzdem: Der Sachverständige betonte dem Gericht gegenüber, dass der Angeklagte seiner Meinung nach auch zu schlimmeren Taten fähig sei. „Er zeigt einen hoch chronischen Krankheitsverlauf, zudem hat er sehr viel selbst beigetragen, weil er immer wieder selbst seine Medikamente abgesetzt hat“, urteilte Professor Ebel.

Trotz der eher pessimistischen Einschätzung des Gutachters entschied das Gericht, die Unterbringung des Angeklagten in der Psychiatrie auf drei Jahre zur Bewährung auszusetzen. Nicht aber, ohne ihm strenge Bewährungsauflagen zu erteilen. Die Bewährung wurde nicht zuletzt deshalb gewährt, weil das Gericht die Befürchtung hatte, dass ein strengeres Urteil vor dem Bundesgerichtshof keinen Bestand haben könnte.

Was das Urteil für den Angeklagten bedeutet

Konkret bedeutet das Urteil, dass der Angeklagte zunächst bis April in stationärer Behandlung im Zentrum für Psychiatrie Reichenau (ZfP) bleiben muss und diese nicht vorzeitig abbrechen kann. Des Weiteren muss er regelmäßigen Kontakt zu seiner Bewährungshilfe halten und sich nach seiner Entlassung aus dem ZfP im Abstand von zwei Wochen in der forensischen Ambulanz melden.

Ebenfalls müsse er monatlich nachweisen, dass er keine Drogen konsumiere und die verschriebenen Medikamente regelmäßig einnehme. „Wenn Sie gegen eine der Auflagen verstoßen, wird nicht nur die Bewährung widerrufen, sondern sie begehen eine Straftat“, informierte die Staatsanwältin und fügte hinzu: „Auch wenn die Mühlen der Justiz manchmal langsam mahlen, in solchen Fällen geht das Verfahren sehr schnell“.

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