Menschenunwürdig! So bezeichnet Chantalle Hartmann den Zustand der Obdachlosenunterkünfte in der Schlesierstraße in Radolfzell. Dort leben ihre Cousine und deren Vater in der Hausnummer 18. Sie spricht von dickem, pelzigem Schimmel an den Wänden, sogar in den Kinderzimmern – und hat entsprechende Fotos ihrer Familie. Auch eine Zentralheizung gebe es nicht. Stattdessen nur einen Holzofen, nach dem die ganze Wohnung stinke und für den im Winter lange kein Brennholz verfügbar gewesen sei.

Von der Möglichkeit, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, habe ihre Familie nichts gewusst und sei deshalb zu unsicher gewesen, es selbst tun. Chantalle Hartmann wandte sich daher selbst an den SÜDKURIER. „Ich verstehe nicht, wie man eine Familie mit Kindern so unterbringen kann“, klagt sie im Gespräch. Denn nach einer Beschwerde beim Hausmeister habe dieser den Schimmel lediglich überstrichen. Mehr tue die Stadt nicht, behauptet sie – dem widerspricht diese allerdings. Auf SÜDKURIER-Nachfrage ermöglicht die Stadtverwaltung eine Besichtigung der Unterkünfte.

Bilder von Chantalle Hartmanns Verwandten zeigen großflächigen Schimmel, der sich in der Obdachlosenunterkunft in der Schlesierstraße ...
Bilder von Chantalle Hartmanns Verwandten zeigen großflächigen Schimmel, der sich in der Obdachlosenunterkunft in der Schlesierstraße gebildet haben soll. | Bild: Chantalle Hartmann

Die fünf Wohnblöcke, gelegen am Ende der Schlesierstraße in den Nummern 18 bis 26, beschäftigen die Stadt und die Radolfzeller schon seit Jahren. Immer wieder gab es Beschwerden über den Zustand. Denn die Gebäude stammen aus den 1960er-Jahren, nicht alle wurden saniert. Die Stadt kündigte bereits vor Jahren umfassende Modernisierungen ab 2020 mit Zentralheizungen für alle Wohnungen an. Wie kommen diese voran? Und wie sieht es in den fünf Wohnblöcken tatsächlich von innen aus?

Sie führten durch die Unterkünfte in der Schlesierstraße: Juliana Mestre und Friedhelm Niewoehner vom Fachbereich Partizipation und ...
Sie führten durch die Unterkünfte in der Schlesierstraße: Juliana Mestre und Friedhelm Niewoehner vom Fachbereich Partizipation und Integration, Melanie Gaber, Sozialarbeiterin im Jakobushof von des AGJ-Fachverbands, Petra Ott, die Leiterin des Fachbereichs Partizipation und Integration, Reiner Gabele vom Technischen Gebäudemanagement, Gerhard Schöpperle vom Fachbereich Hochbau und Gebäudemanagement und OB Simon Gröger. | Bild: Mario Wössner

„Obdachlosigkeit ist ein sensibles Thema, dahinter steht immer eine tragische Geschichte“, sagt Oberbürgermeister Simon Gröger vor Beginn des Rundgangs. Entsprechend „verantwortungsbewusst“ und „würdevoll“ gehe die Stadt mit dem Thema um.

Petra Ott, Leiterin des Fachbereichs Partizipation und Integration, der für die Unterkünfte zuständig ist, stellt klar: „Alle Unterkünfte in Radolfzell sind weit über dem rechtlichen Anspruch, der sehr niedrig ist. Wir haben einen hohen Standard.“ Die Radolfzeller Unterkunft sei besser ausgestattet als viele andere, sodass auch schon Obdachlose aus Singen oder Konstanz hierher gekommen seien.

Hintergrund

Die Besichtigung startet im Haus mit der Nummer 26. Das Gebäude hat die Stadt angemietet, es befindet sich auf neuestem Stand mit Zentralheizung und ist energetisch saniert – ebenso wie die Nummer 24. Hier sind die Einzimmerapartments für Menschen über 50 Jahren, während in den anderen vier Blöcken größere Wohnungen für Familien und Wohngemeinschaften sind.

Sind die Bewohner selbst am Schimmel schuld?

Zunächst geht es in der Nummer 26 durch schmale Gänge und ein dunkles Treppenhaus – aber in eine helle, schöne und saubere Wohnung. Sie verfügt über Strom, ein Bad mit Dusche und eine Heizung. Die Wohnung ist gerade frisch saniert, was nach einem Auszug üblich sei, und bereit für den Neubezug. „Die Arbeiten bei Bewohnerwechsel erfolgen immer bedarfsgerecht. Teilweise kostet das bis zu 10.000 Euro pro Wohnung“, berichtet Gröger. Wenn nötig, werde der Boden herausgerissen, das Bad neu gemacht, die Fenster gedämmt.

Darüber hinaus habe die Stadt das Ziel, zwei Wohnungen pro Jahr energetisch zu sanieren. Dafür halte sie jährlich ein Budget von 40.000 Euro bereit. „Den Eindruck, dass wir hier zu wenig tun, kann ich daher nicht nachvollziehen“, so Gröger.

Holzofen und Pritschen: Die Ausstattung in den Wohnungen in der Hausnummer 18, die noch nicht mit einer Zentralheizung modernisiert wurde.
Holzofen und Pritschen: Die Ausstattung in den Wohnungen in der Hausnummer 18, die noch nicht mit einer Zentralheizung modernisiert wurde. | Bild: Mario Wössner

Danach geht die Besichtigung in einer Wohnung der Nummer 18 weiter, wo auch Chantalle Hartmanns Familie wohnt. Der Standard hier ist sichtbar niedriger, sei aber noch immer weit über den rechtlichen Ansprüchen, so Ott. Lediglich eine Zentralheizung gebe es hier, ebenso wie in Nummer 20 und 22, nicht. Und daran wird sich auch so schnell nichts ändern.

Sanierung steckt in der Warteschleife

Eigentlich sollten die drei Blöcke seit 2020 saniert werden. Doch passiert ist dies bislang nicht. „Einen Zeitplan dafür können wir auch jetzt nicht angeben, weil das Haus für den Einbau einer Zentralheizung geräumt werden müsste. Das ist aktuell nicht möglich“, so Gabele. Zwar plane die Stadt, generell alle städtischen Gebäude energetisch zu sanieren. „Aber dafür gibt es eine Priorisierung, und in der stehen die Unterkünfte natürlich nicht so weit oben“, so Friedhelm Niewoehner, laut eigener Aussage der „Mann vor Ort“ des Fachbereichs. Es bleibe daher vorerst dabei, dass zwei Wohnungen pro Jahr sukzessive modernisiert werden.

Zumindest in den für einen Bewohnerwechsel frisch sanierten Wohnungen sind keine Spuren von Schimmel oder anderen Mängeln zu entdecken.
Zumindest in den für einen Bewohnerwechsel frisch sanierten Wohnungen sind keine Spuren von Schimmel oder anderen Mängeln zu entdecken. | Bild: Mario Wössner

Die Klagen über Schimmel und andere vermeintliche Mängel können OB Simon Gröger und Reiner Gabele vom Technischen Gebäudemanagement dennoch nicht nachvollziehen. Der Schimmel entstehe meist durch die falsche Nutzung der Wohnungen. Die Bewohner würden nicht ausreichend oder falsch lüften.

Kritik am Umgang der Stadt mit Beschwerden können die beiden ebenfalls nicht verstehen. Denn der Hausmeister der Unterkunft würde kleinere Stellen sofort überstreichen. Grundlegende Reparaturen übernehme bei Bewohnerwechsel notfalls ein externer Fachmann. „So etwas ist aber nur möglich, wenn die Wohnung zeitweise leer steht, nicht im laufenden Betrieb“, so Gabele.

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Aktuell sind in den fünf Gebäuden 66 Menschen untergebracht, 2019 waren es noch etwa 90. Die Kapazität würde für 100 bis 110 reichen. Viele Bewohner würden ihre eigenen Möbel mitbringen. In einigen Zimmer stehen Möbel jedoch bereit, meist aus Wohnungsauflösungen, erklärt Niewoehner.

Alle Wohnungen verfügen über eine kleine Kochnische.
Alle Wohnungen verfügen über eine kleine Kochnische. | Bild: Mario Wössner

Wie vielfältig die Gründe für Obdachlosigkeit sind, wird im Dachgeschoss der Nummer 26 deutlich. Hier befindet sich eine Notfallwohnung für Menschen, die über Nacht obdachlos werden – zum Beispiel nach einem Wohnungsbrand. Die meisten Bewohner wurden aber durch Räumungsklagen wegen Mietschulden obdachlos, berichtet Ott. In dem Fall werde die Stadt automatisch informiert und schreite ein.

Schrank und Bett: Unter dem Dach der Nummer 26 steht eine ausgestattete Notfallwohnung für Menschen bereit, die über Nacht obdachlos werden.
Schrank und Bett: Unter dem Dach der Nummer 26 steht eine ausgestattete Notfallwohnung für Menschen bereit, die über Nacht obdachlos werden. | Bild: Mario Wössner

Familie Hartmann will schnell wieder raus

„Wir wollen natürlich die Unterbringung in einer Unterkunft bestenfalls vermeiden“, erklärt Ott. Deshalb frage man zunächst die Verwandtschaft nach einem Platz. Ziel sei es, in Notsituationen schnell zu helfen und mittelfristig bei der Rückkehr in eine reguläre Wohnung zu unterstützen. „Die Unterkünfte sind eigentlich nur temporär als Notlösung gedacht“, so Gröger.

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Dennoch bleiben viele Menschen lange hier. Etwa 20 Personen würden pro Jahr ein- und ausziehen. Von den übrigen seien viele schon mehrere Jahre da, berichtet Niewoehner. „Der Wohnungsmarkt ist so schwierig, dass viele nichts finden. Manche wollen aber auch einfach nicht gehen“, erklärt er. Für Chantalle Hartmanns Familie gilt das allerdings nicht: „Sie wollen raus und sind dringend auf Wohnungssuche“, sagt sie.