Wie sozial sind eigentlich Sozialwohnungen? Das fragt sich Anja Rist aus Radolfzell, nachdem ihr Sohn Tobias und dessen Freundin Celine schlechte Erfahrungen gemacht haben. Vor wenigen Wochen wandte sich Anja Rist deshalb an den SÜDKURIER. Die 44-Jährige beklagte, dass ihr 20-jähriger Sohn und dessen 18-jährige Freundin trotz Wohnberechtigungsschein eine Absage für eine Sozialwohnung in Böhringen bekamen – weil ihr Gehalt zu niedrig sei.
Der Vermieter habe ein gemeinsames Nettoeinkommen von 2500 Euro monatlich verlangt, obwohl die Warmmiete für die Dreizimmerwohnung nur etwa 880 Euro betragen würde. „Und das für eine Sozialwohnung mit Wohnberechtigungsschein“, sagt Anja Rist ungläubig. Dabei könnten sie nach eigenen Angaben ohne Weiteres die Warmmiete bezahlen und hätten mehr als einen kompletten Lohn für sonstige Ausgaben übrig, so Rist weiter. Denn zusammen verdienen ihr Sohn und dessen Freundin etwa 2000 Euro.
Junge Paar erwartet ein Baby und braucht eine Bleibe
Bei der Wohnungssuche stehen Celine und Tobias Rist, die noch bei seinen Eltern wohnen und derzeit eine Ausbildung absolvieren, unter Zeitdruck. Sie brauchen dringend eine eigene Wohnung. Denn Celina ist schwanger, Anfang 2024 erwartet sie ihr Kind. „Die Situation stresst uns total. Für uns war die Absage deshalb ein Schock, wir sind sehr enttäuscht“, sagt Tobias Rist.
In die Enttäuschung mischt sich bei seiner Mutter auch Wut. Ihr Verdacht: Die neu gebauten Wohnungen in Böhringen seien nur auf dem Papier Sozialwohnungen. Warum sonst könne der Vermieter ein so hohes Nettogehalt verlangen und eine Bürgschaft verweigern. Der Vermieter reagierte auf eine SÜDKURIER-Anfrage zu den Schilderungen nicht.
Hinzu kommt ein weiteres Problem bei der Wohnungssuche: Das junge Paar hätte wegen ihres geringen Einkommens vermutlich Anspruch auf Wohngeld. Doch das könnten sie erst beantragen, wenn sie eine Wohnung haben. Rists trauriges Fazit: Ohne Wohnung kein Wohngeld, ohne Wohngeld keine Sozialwohnung. „Ich frage mich, ob das wirklich sozial ist“, sagt sie.
Gesetzliche Regelungen
„Ich kann den Ärger und die Enttäuschung der Familie vollkommen nachvollziehen, aber in diesem Fall lief alles korrekt ab“, sagt Oliver Merle, Anwalt für Miet- und Wohnungsrecht in Radolfzell. Denn auch für Sozialwohnungen gelte ein normaler Wohnungsmarkt mit Konkurrenz – nur eben ausschließlich für Menschen mit Berechtigungsschein. Jedes andere Kriterium als das Einkommen zu verwenden, wäre deutlich willkürlicher, so Merle.
Das sagt ein Anwalt für Mietrecht über den Fall
Doch sind 2500 Euro netto Monatseinkommen für Menschen mit Wohnberechtigungsschein überhaupt realistisch? Ja, sagt Oliver Merle. In Baden-Württemberg können Haushalte mit einem Jahreseinkommen von unter 55.250 Euro brutto einen beantragen, wovon monatlich bis zu 3200 Euro netto übrig bleiben können. Auch dass der Vermieter ein Einkommen weit über der Warmmiete verlangt, sei normal. „Mieter haben auch etliche andere Kosten zu tragen und der Vermieter muss sichergehen, dass dieser dennoch die Miete stemmen kann“, erklärt der Anwalt.
Doch hätte die Stadt nicht zumindest Vorgaben für die Kriterien machen können, sodass der Vermieter eine Bürgschaft zulassen muss? Laut Oliver Merle nicht. „Die Stadt kann hier nicht mitreden oder Vorgaben machen, nur der Vermieter. Das wäre sonst ein Eingriff in den Wohnungsmarkt und die Eigentumsrechte, der nicht zu rechtfertigen ist“, sagt er.
Darum darf die Stadt nicht mitentscheiden
Solche Eingriffe hätten auf lange Sicht sogar negative Folgen für Wohnungssuchende. „Niemand würde mehr in Wohnungen investieren, wenn er sich seinen Mieter nicht nach eigenen objektiven Kriterien wie dem Einkommen selbst auswählen dürfte“, prognostiziert der Anwalt.
Es gebe nur eine einzige gesetzliche Vorgabe bei Sozialwohnungen: Vermieter dürfen sozialgebundenen Wohnraum nur an Menschen mit Berechtigung vermieten und erst nach Ende der Sozialbindung die Miete erhöhen.
Auch die Stadtverwaltung erklärt: Grundlage der Förderung einer Sozialwohnung sei, dass diese nur an Personen mit Berechtigungsschein vermietet werden dürfen. „Weitere Kriterien zur Vermietung schreibt die Stadt den Vermietern nicht vor“, teilt Natalie Reiser von der Pressestelle mit. Insgesamt gebe es in Radolfzell von diesen Wohnungen bislang 75 sowie 33 neue in Böhringen. Zudem seien in den kommenden Jahren weitere 14 Sozialwohnungen in der Kernstadt sowie 13 in Markelfingen geplant. Doch die kämen für das junge Paar zu spät.
Für Tobias und Celine Rist hat die Wohnungssuche aber dennoch ein glückliches Ende genommen – wenn auch in Worblingen statt in Radolfzell. Mitte November bekamen sie dort die Zusage für eine normale Dreizimmerwohnung, da die Eltern hier bürgen durften, berichtet Anja Rist. „Schon eine Woche später konnten die beiden einziehen. Wir sind alle total erleichtert und zufrieden“, sagt sie.