
Was verbirgt sich hinter der Fassade? Kaum ein Krimi, in dem sich der Detektiv nicht genau diese Frage stellt, um den Fall zu lösen. Nun ist Roland Drewans zwar kein verdeckter Ermittler, aber auch von ihm wird eine Antwort auf die Fassadenfrage erwartet. Im Auftrag des ECE-Unternehmens überwacht der 55-Jährige den Ab- und Wiederaufbau der denkmalgeschützten Vorderseite des Hotel Viktoria, die in den nächsten Monaten in die Außenwand des neuen Einkaufszentrums Cano integriert werden soll.
Seit Anfang des Jahres ist der Fassadenbauleiter des Cano, der deutschlandweit bereits an zahlreichen Großprojekten mitgearbeitet hat, in Singen im Einsatz. Von der ECE-Gruppe seien Firmen zunächst mit Scan- und Fotoanfertigungen, sogar mit Drohnenflügen beauftragt worden, um das Gebäude zu analysieren, berichtet Drewans.
Puzzlespiel mit 1000 Steinen
Inzwischen habe man herausgefunden, dass sich das 1908 erbaute Hotel aus etwas mehr als 1000 wiederverwendbaren Steinen zusammensetzt. „Das Erdgeschoß besteht aus Tengener Muschelkalk, die restlichen Bauteile aus Betonwerkstein“, erklärt er. „Dabei sprechen wir von den zwei Ansichten des Gebäudes, die wiederaufgebaut werden sollen – diejenige zur Hegaustraße hin und die zur Thurgauer Straße.“
Besonders an der damals angewandten Bauweise sei, dass die Erbauer die im Erdgeschoss verwendeten sogenannten Possensteine weitgehend in ihrer natürlichen Form belassen hätten. „Behauen hat man sie nur an den Stellen, an denen sie übereinander gesetzt wurden.“

Das heißt: Die Steine sind unterschiedlich hoch, breit, lang und tief. Wenn man sie nun – wie im Singener Fall von der Stadt gefordert – originalgetreu wieder aufbauen möchte, beginnt zwangsweise das, was Drewans als gigantisches Puzzlespiel beschreibt. „Jeder einzelne Stein muss händisch abgetragen und nummeriert werden, damit er später exakt an der richtigen Stelle wieder verbaut werden kann.“
Unter besonderem Schutz
Zumindest der Rückbau ist bereits geschafft. Derzeit warten die Steine auf entsprechend markierten Paletten in einem Außenlager nahe Singen darauf, wieder verbaut zu werden. Um das historische Material zu schützen, habe man es in Holzverschläge und eine aus Skandinavien importierte, UV-beständige Schutzfolie gepackt.

Ein entscheidender Baustein des Puzzles hat das Lager allerdings vor kurzem schon wieder verlassen. „Das markante Türmlein, an dem früher ein Fahnenmast angebracht war, haben wir als Ganzes abgetragen. Leider war die Oberfläche komplett mit Rost übersät.“

Da man den Rost nicht einfach herunterschleifen könne, ohne das Kupfer zu beschädigen, werde das Türmchen derzeit zur Sanierung vorbereitet. „Anschließend wird es nach Norddeutschland transportiert, wo der Turm dann im Gesamten in einem Braunton oxidiert wird.“
Vor allem eins steckt dahinter
Auch sonst ist noch viel zu tun, bis die Fassade an der Ecke Hegaustraße/Thurgauer Straße ab November Stein für Stein wieder neu aufgebaut werden kann. Entscheiden muss man sich zum Beispiel noch für die Farbe des Putzes in den Obergeschossen – „wahrscheinlich weiß“, so Drewans. Klar ist aber schon jetzt, dass hinter der neuen alten Fassade des Hotel Viktoria vor allem eins steckt: jede Menge Aufwand.
Historischer Abriss
Hotelier Ernst Pickel errichtete das „Viktoria“ im Jahr 1908 an der Hegaustraße. 1918 erwarb der Bauunternehmer Bernhard Schweizer das Gebäude, der es schon ein Jahr später an Karl Sturm veräußerte. Dieser führte das Hotel mit Lokal bis zu seinem Unfalltod im Jahr 1926. Danach übernahmen die Witwe Anna Sturm mit Sohn Kurt den Betrieb. In der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg zog zwischenzeitlich das Finanzamt ein, da die französische Besatzungsmacht dessen Gebäude beschlagnahmt hatte. Später wurde das Hotel von verschiedenen Pächtern bewirtschaftet, zwischenzeitlich als „Bilgerhof“ von einem Gottmadinger Gastronomen geführt. Zuletzt war ein italienisches Restaurant im Gebäude untergebracht. Auch hinter der wieder errichteten Fassade soll nach der Eröffnung des Cano italienisches Essen serviert werden.