Der 20. März 1974 ist älteren Bürgerinnen und Bürger aus Singen und dem Hegau sicher noch in guter Erinnerung. Mit 7700 Quadratmetern Verkaufsfläche eröffnete an diesem Tag die Karstadt Filiale in bester Lage gegenüber dem Bahnhof. Doch bereits zum Richtfest am 7. Dezember 1973 herrschte Volksfeststimmung, hieß es damals in der Zeitung.

1973: Die Ansicht vom Bahnhof aus auf den Bereich der Einfahrt zum Parkhaus des Karstadt-Gebäudes.
1973: Die Ansicht vom Bahnhof aus auf den Bereich der Einfahrt zum Parkhaus des Karstadt-Gebäudes. | Bild: Archiv Wessendorf

Bevor Karstadt gebaut werden konnte, musste sich die Stadt von dem Gasthaus Alte Post mit großem Biergarten verabschieden. „Der Biergarten lag schon lange im Dornröschenschlaf“, hatte Karl Wager in einem Rückblick zum 25-jährigen Bestehen von Karstadt im Singener Jahrbuch 1998/99 geschrieben. Karl Wager war ab 1991 Geschäftsführer. Schon vor dem Bau gab es im Einzelhandel nicht nur Befürworter für das neue Kaufhaus.

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Die Anfänge von Karstadt hat Helmut Wessendorf begleitet. Er kam schon in der Zeit des Rohbaus als Geschäftsführer nach Singen. „Ich wurde damals vom Vorstand berufen, die Singener Filiale zu übernehmen“, erzählt Helmut Wessendorf. Davor war er in Karstadt-Filialen in Düsseldorf-Langenfeld und Köln-Porz. Nach dem Abitur hatte er bei Karstadt gelernt und bereits mit 25 Jahren die erste Filiale übernommen.

Helmut Wessendorf und der damalige Verkaufsdirektor Karl Joost Merker (rechts) bei der Eröffnung 1974.
Helmut Wessendorf und der damalige Verkaufsdirektor Karl Joost Merker (rechts) bei der Eröffnung 1974. | Bild: Archiv Wessendorf

„Ich hatte von Singen bis dahin noch nie was gehört und war nach meinem ersten Besuch sehr enttäuscht. Kein blühender Einzelhandels-Standort, aber ein gewaltiger Industriebesatz mit Vollbeschäftigung“, war sein erster Eindruck. In Singen sei das Warenangebot damals etwa zehn Jahre zurück gewesen, verglichen mit dem Standard anderer Städte, erinnert sich Wessendorf. Auch wenn es damals schon das Eska-Kaufhaus gegeben hatte.

Wie es angefangen hat

Die Anfangszeit von Karstadt in Singen war ein Meilenstein für die sich danach rasant entwickelnde Hegau-Metropole. Besonders die Schlussverkäufe waren Höhepunkte im Jahreslauf. „Wir haben dann um 8 Uhr geöffnet, doch schon ab 6 Uhr bildeten sich vor dem Eingang Menschentrauben“, sagt Wessendorf. Auch sei es vorgekommen, dass die Rolltreppen wegen zu vieler Menschen stehen geblieben seien. An den Rolltreppen hätte es extra Aufsichtspersonen gegeben. An solchen Tagen seien viele Menschen aus dem Umland gekommen, teils mit Traktoren. Doch Schweizer Kunden waren damals nicht darunter, denn der Frankenkurs war nicht attraktiv.

Helmut Wessendorf vor der Karstadt-Filiale in der August-Ruf-Straße, wo damals noch ein Abgang zum Untergeschoss war.
Helmut Wessendorf vor der Karstadt-Filiale in der August-Ruf-Straße, wo damals noch ein Abgang zum Untergeschoss war. | Bild: Archiv Wessendorf

Ein großer Unterstützer des Handels sei der damalige Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle gewesen. Die Eröffnung von Karstadt sei wohl auch ein Grund gewesen, dass die Handelskennzahlen in die Höhe gingen. „Karstadt hat großstädtisches Flair nach Singen gebracht“, ist Wessendorf überzeugt. Doch auch die Parksituation sei seiner Ansicht nach schon damals gut gewesen. Anfangs war die August-Ruf-Straße sogar noch von Autos befahren. Der Haupteingang von Karstadt sollte ursprünglich an der Seite zum Bahnhof sein, kam dann aber doch auf die Seite der August-Ruf-Straße. Weil sich der Handelsplatz in den 70ern so rasant entwickelte, hätten auch die Großbetriebe leichter Führungskräfte bekommen.

2019: So sieht es heute aus, wenn man vom Bahnhof aus Richtung Karstaddt schaut.
2019: So sieht es heute aus, wenn man vom Bahnhof aus Richtung Karstaddt schaut. | Bild: Susanne Gehrmann-Röhm

In den Anfangsjahren hatte Karstadt 40 Abteilungen mit jeweils eigenen Abteilungsleitern sowie eigene Schreiner, Elektriker und Maler. Allein in der Lebensmittelabteilung arbeiteten 45 Angestellte, in der Dekoabteilung noch mal 30 Leute. Insgesamt hatte die Filiale 450 Mitarbeiter, die meisten davon in Vollzeit. Auch hatte Karstadt damals etwa 20 Lieferfahrzeuge und die Anlieferung von gekauften Möbel war kostenlos.

Bis 1978 war Helmut Wessendorf in der Singener Filiale Geschäftsführer. Doch dann wollte Karstadt ihn nach Frankfurt versetzen. Mittlerweile hatte er sich in die Region verliebt und seine Frau Hannelore kennengelernt und blieb. Er machte sich mit eigenen Modegeschäften selbständig.

Helmut Wessendorf hat viele Fotos aus der Anfangszeit von Karstadt aufgehoben.
Helmut Wessendorf hat viele Fotos aus der Anfangszeit von Karstadt aufgehoben. | Bild: Susanne Gehrmann-Röhm

Doch der brutale Wandel im Einzelhandel beschäftigt Helmut Wessendorf immer noch, auch wenn er heute nur noch ein Geschäft betreibt. „Wir hatten früher einen ausgeprägten Kunden-Markt, also viel mehr Kunden als Waren und heute ist es umgekehrt“. 1974 habe es noch das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb gegeben. Danach durften 14 Tage vor den Schlussverkäufen keine Waren mit durchgestrichenen Preisen im Fenster gezeigt werden und dies wurde kontrolliert.

„Heute wird der Kunde praktisch das ganze Jahr umworben und mit Rabatten umgarnt. Mondpreise, bei denen die normalen Preise radikal hochgesetzt werden und dann radikal reduziert werden, sind die Regel.“ Leider würden die Waren heute zu Dumpingpreisen hergestellt und wertvolle Rohstoffe oft nur für den kurzfristigen Bedarf eingesetzt und die produzierten Dingen landen heute sehr oft nach sehr kurzer Zeit auf dem Müll.

So sieht das Karstadt-Gebäude heute aus.
So sieht das Karstadt-Gebäude heute aus. | Bild: Susanne Gehrmann-Röhm

Wie es weiter geht

Im Oktober 2020, dem voraussichtlichen Eröffnungstermin des CANO Einkaufszentrums, werden weitere 16 000 Quadratmeter Verkaufsfläche in Singen dazukommen. Auch dieses Projekt hatte Befürworter und Gegner, auch bei den ortsansässigen Einzelhändlern. Wie sich das Ganze entwickelt – man darf gespannt sein.

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Kaufhaus mit langer Geschichte

  • Zur Person: Helmut Wessendorf, geboren am 30. Oktober 1943, kam nach zwei Stationen in Karstadt-Häusern in Nordrhein-Westfalen im Jahr 1973 nach Singen, um die neue Filiale als Geschäftsführer zu leiten. 1978 machte er sich mit seiner Frau Hannelore selbständig und hatte zeitweilig bis zu 25 Modegeschäfte mit über 100 Mitarbeitern im Bodenseeraum. Er engagierte sich jahrelang im Einzelhandelsverband und in der Mittelstandsvereinigung.
  • Zum Unternehmen: Das Kaufhaus Karstadt wurde im Mai 1881 von Rudolph Karstadt (1856 bis 1944) gegründet. Das erste Geschäft war in Wismar und hatte den Namen „Tuch-, Manufaktur- und Confectionsgeschäft Karstadt“. Die zweite Filiale wurde 1884 in Lübeck eröffnet. Seit dem Jahr 1969 ist die Hauptverwaltung in Essen-Bredeney. Deutschlandweit hatte Karstadt in der Zeit, als die Singener Filiale eröffnet wurde, 67 000 Mitarbeiter in 96 Filialen.
  • Zur Filiale: Die Singener Filiale ist heute eine von acht Filialen im Land Baden-Württemberg. Wie viele Mitarbeiter und Auszubildende heute in Singen beschäftigt sind, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, da die Pressestelle von Karstadt in Essen bis Redaktionsschluss nicht auf Anfragen reagiert hat.

Unsere Serie

In der großen SÜDKURIER-Sommerserie „Gedächtnis der Region“ blicken wir in unseren Lokalteilen zurück in die 70er Jahre und zeigen Ihnen anhand von Bildern und Geschichten, wie sich das Leben in unserer Region verändert hat. Alle Folgen der Serie finden Sie hier.