Ob Nachbarschaftshilfe, Tauschbörse oder Coworking-Spaces zum gemeinsamen Arbeiten – Gemeinschaft und Zusammenhalt sind gefragt. Beim neunten Wirtschaftsforum in der Singener Stadthalle stellte die Zukunftsforscherin Kirsten Brühl als Hauptrednerin auf der Bühne innovative Formen der Gemeinschaftsbildung vor. Und sie zeigt sich bei der abschließenden Abendveranstaltung des Wirtschaftsforums davon überzeugt, dass sich ein Wandel hin zu einem neuen Wir-Gefühl in der Gesellschaft bemerkbar mache.

„Schnellboote lösen Tanker ab“, sagte sie dazu. Was sie damit meint? „Die neue Größe sind kleinere Bewegungen“, so Brühl. Solche Bewegungen sollen selbst organisiert sein, nur zeitweise aktiv, und, was Brühl besonders wichtig ist, von kleineren Gruppen selbst auf die Beine gestellt. Oder wie sie ihre Kernthese anders formuliert: Von großen Kollektiven müsse man sich bei der neuen Wir-Kultur verabschieden. Denn die Welt werde komplexer und vernetzter.
Die Welt wird komplexer
Eine Ursache dafür sei, dass die Welt komplexer und anstrengender geworden sei. Schnelllebig ist eines der Wörter, die am meisten auf der Bühne fielen. „Wir müssen uns deshalb anders organisieren, uns selbst organisieren“, sagt Brühl. Menschen würden nicht mehr unbedingt auf Politik, Gewerkschaften, Kirche oder soziale Träger warten. Übertragen auf die Wirtschaft bedeutet dies: Viele Unternehmen bräuchten laut Brühl eine neue Unternehmenskultur, in der mehr Wert auf Selbstverantwortung gelegt werde. In der Startup-Kultur gebe es schon viele Beispiele, in denen das gut funktioniert.

Aber das neue Wir-Gefühl birgt laut der Zukunftsforscherin Kirsten Brühl auch Gefahren. Zwischenzeitlicher Leistungsabfall gehöre dazu, ebenso ein Gefühl mangelnder Wertschätzung vor allem bei langgedienten Mitarbeitern, Kontrollverlust und Machtkämpfe in Unternehmen. „Der Weg zur Selbstverantwortung ist lang und vertrackt“, betont sie. Was auf jeden Fall verhindert werden müsse, sei eine maximale Überforderung. „Es muss auch bei den neuen Wirs stabile Zonen geben, damit nicht alles zu schnell gefordert wird“, so Brühl.
Zuhörerin Eva Krause sah dies in der anschließenden Diskussionsrunde, die von Stephan Freißmann als Leiter der Lokalredaktion des SÜDKURIER in Singen geleitet wurde, ebenso. Sie wünsche sich, dass es – im übertragenen Sinne – keine Unfälle mit den Schnellbooten gebe. „Agil zu sein heißt, nicht schnell zu sein, sondern Zwischenziele wahrzunehmen, zu feiern und dann weiter nach vorne zu schauen“, sagt Krause. Brühl gab ihr Recht: „Schnell heißt nicht besser.“

Workshops vermitteln bereits Teamgeist
Unfreiwillig viel Zeit hatten die Macher für die Organisation des neunten Wirtschaftsforums wegen einer Corona-Pause von zwei Jahren. Umso zufriedener waren sie nach dem Donnerstag: „Die Workshops sind gut besucht und es findet ein intensiver Austausch statt“, fasste Organisator Reinhold Maier von der Singener Stadthalle zusammen.

Einer von drei Workshop-Leitern war Michael Nusser. Er stand im Stadtgarten neben der Stadthalle und nickte: „Jetzt haben sie es, das könnte klappen“, sagt er und schaut auf seine Uhr. Er ist Spezialist für Teamentwicklung und hat schon mit Borussia Dortmund und dem SC Freiburg zusammengearbeitet. An diesem Nachmittag stellte er seiner Gruppe die Aufgabe, dass es binnen 30 Sekunden alle einmal durch eine kreisrunde Schnur schaffen sollen.

So viel sei verraten: Die Teilnehmer haben es am Ende trotz zahlreicher Ideen nicht ganz geschafft, ein paar Sekunden haben gefehlt. Aber Michael Nusser war dennoch zufrieden: „Ihr habt wirklich gut zusammengearbeitet und darauf kommt es an.“
300 Besucher wollen mehr über Zukunft wissen
Rund 110 Teilnehmer waren seit dem Vormittag in und um die Stadthalle aktiv. Bei der Abendveranstaltung mit der Zukunftsforscherin Kristen Brühl als Hauptrednerin wurden etwa 300 Besucher gezählt.
Zum ersten Mal fand das Wirtschaftsforum nicht im Frühjahr sondern im Sommer statt, was den Organisatoren mehr Spielraum bietet. So könnten laut Maier zum ersten Mal auch Workshops im Freien stattfinden. „Die Verlegung in den Sommer hat uns flexibler gemacht“, sagt Maier. Dennoch wolle man im nächsten Jahr wieder in den gewohnten Rhythmus zurückkehren.
Das Motto trifft einen Nerv der Zeit
Mit dem Motto „Vom Ich zum Wir“ scheint das Wirtschaftsforum voll ins Schwarze getroffen zu haben. „Dieses Thema ist seit Corona aktueller denn je“, sagt Roland Frank, Geschäftsführer von Kultur und Tagung Singen. Der Ukraine-Krieg habe diesen Umstand nur noch verschärft. Auch Daniel Hirt, Vorstandsmitglied der Volksbank, gibt ihm Recht: „Das Thema trifft die Stimmung in den Unternehmen. Der Einzelne steht nach Corona noch weniger im Vordergrund, wir müssen mehr auf das Team setzen.“
Eines steht beim Wirtschaftsforum an erster Stelle: Sich treffen, austauschen und vernetzen. „Nach Zeiten der Corona-bedingten Distanz ist es umso wichtiger, dass wir uns hier wieder persönlich und in Präsenz austauschen können“, betont Roland Frank, Leiter von Kultur und Tagung Singen.
Was Teilnehmer zum Wirtschaftsforum sagen
Oliver Ley von Südstern Bölle ist an diesem Tag beim Wirtschaftsforum dabei. Für ihn steche in diesem Jahr besonders hervor, dass man zum Mitmachen gezwungen werde – und zwar im positiven Sinne: „Das sind alles keine Frontbeschallungen.“ Matthias Blumentrath ist einer der drei Geschäftsführer von Fondium und zum zweiten Mal beim Wirtschaftsforum dabei. Er finde besonders gut, dass es viel Input innerhalb kurzer Zeit gebe. „Veranstaltungen wie diese sind extrem wichtig, um sich untereinander zu vernetzen“, ist er überzeugt.