Es ist dieser eine Moment, in dem die Hand an die Reckstange greift, zurückschnellt – und der Turner auf die Matte stürzt. Der Moment, der den Erfolg kostet, auf den der Athlet jahrelang hingearbeitet hat. Und der Moment, der Fabian Hambüchen bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 ins Kontor schlug. Bei seinem Auftritt in der voll besetzten Singener Stadthalle beim zehnten Wirtschaftsforum schonte sich der frühere Weltklasse-Kunstturner nicht. Wo man beim Berichten über sein eigenes Leben versucht sein könnte, das Licht etwas rosiger einzustellen, als es in Wirklichkeit leuchtete, kehrte Hambüchen auch die Risse, die Brüche und die Misserfolge nach außen.
Zum Beispiel den Moment, als er bei Olympia 2008 vom Reck, ausgerechnet seinem besten Gerät, stürzte und eine Welt für ihn zusammenbrach. Und er erzählt auch die Geschichte hinter dem Moment. Vom super-erfolgreichen Jahr 2007, in dem er in Amsterdam Gold- und Silbermedaillen bei der Europameisterschaft erturnt hat, in Stuttgart Weltmeister am Reck wurde und das Abitur abgelegt hat – „definitiv das schwerste von den dreien“, wie Hambüchen anmerkt.

Entsprechend selbstbewusst sei er nach Peking gefahren. Beim Aufwärmen habe er sich allerdings einen Finger verletzt, mental sei er wegen der Schmerzen nicht mehr bei der Sache gewesen. Am Ende stand olympisches Bronze. „Scheiße, falsche Farbe“, habe er nur gedacht.
Stress in der Familie gibt es auch bei Top-Turnern
Geschichten wie diese hatte Hambüchen einige dabei. Da gab es amüsante Darstellungen von Streitereien mit dem Vater, der ihn und seinen älteren Bruder trainiert hat. Berichte von starken Schmerzmitteln und hohen Cortison-Dosen, die er nahm, um dem Drang zum Turnen folgen zu können. Und natürlich darf auch der krönende Moment bei Olympia 2016 in Rio de Janeiro nicht fehlen, als ihm, der seine Karriere eigentlich schon zuvor beenden wollte, die Goldmedaille gelang. Geschichten, die heute, in der Rückschau, mitunter amüsant klingen, aber einen ernsten Hintergrund haben.

Der entscheidende Punkt war: Wie geht es nach Niederlagen weiter? Wie erreicht man psychische Widerstandsfähigkeit, auch Resilienz genannt? Hambüchens Vortrag gab ein paar Anhaltspunkte dafür. Sein Onkel, der sein Mentaltrainer war, und Selbsthypnose hätten ihm dabei geholfen. So habe er vor Olympia 2012 in London das Gefühl wieder aktivieren können, einen unbändigen Willen zum Turnen zu haben.
Hambüchen: „Ich habe zu viel an die Medaillen gedacht, aber nicht an das, was ich dafür tun muss.“ Die Konzentration auf die Sache eben. Der Umstieg im Kopf gelang – belohnt durch die Silbermedaille, die wiederum für Rio 2016 beflügelte. Der Rest ist Geschichte.
Was kann man daraus fürs tägliche Leben lernen?
Nun hat nicht jeder einen Mentaltrainer und nicht jeder ist Teil eines sportlichen Familienbetriebs, der Turnen auf Weltniveau ermöglicht. Was kann also der ganz gewöhnliche Mensch aus diesen Episoden lernen? Diese Frage stellte SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz, der den Abend moderierte, zu Beginn der anschließenden Podiumsdiskussion an Donya Gilan. Die promovierte Psychologin ist Leiterin des Bereichs Resilienz und Gesellschaft am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz und hatte mittags den Impulsvortrag beigesteuert.
Die Themen Niederlage, Zielsetzungen und Familie gebe es überall, doch in dieser Intensität sei das sehr spezifisch, lautete ihre Einschätzung. Und durch die Corona-Pandemie sei vielen Menschen klar geworden, wie wichtig das Mentale eigentlich ist. Man spüre eine gewisse Erschöpfung bei den Menschen, auch angesichts von digitaler Reizüberflutung.
Michael Gleich, der als Wissenschaftsjournalist für verschiedene Magazine schreibt und als Moderator schon durchs Nachmittagsprogramm geleitet hat, sagte dazu, die Dauerberieselung lenke zu sehr ab von den inneren Quellen der Kraft – ein Faktor, der in seinen Augen die psychische Widerstandsfähigkeit herausfordert. Eltern könnten zum Beispiel damit anfangen, ihrem Kind im Restaurant kein Tablet vor die Nase zu legen, um die Wartezeit zu verkürzen.
Harte Arbeit gehört für den Turner dazu
Für eine gewisse Härte als Faktor für Resilienz argumentierte auf dem Podium Fabian Hambüchen. In Turnhallen nehme er wahr, dass viele Kinder vom Olympiasieg oder dem Erfolg als Youtuber träumten – aber hart dafür arbeiten würden viele nicht wollen.
Der Umgang mit Niederlagen ist auch in finanzieller Hinsicht wichtig. Nicolas Mayer, Bereichsleiter Firmenkunden bei der Volksbank Offenburg und Villingen-Schwenningen, die als Hauptpartner des Wirtschaftsforums auftritt, berichtete aus seiner Praxis, dass die Banker keine Lebens- und Berufsberatung übernehmen. Aber sie würden prüfen, ob ein vorgelegtes Konzept funktionieren könne.
In diesem Teil des Abends hatten auch Gäste aus dem Publikum die Gelegenheit, auf dem Podium einen Beitrag zu leisten. Die Themen reichten von Tipps fürs Marathonlaufen über die Frage nach dem gelungenen Ende einer Profi-Karriere bis zur Resilienz durch Sport. Und am Ende betrat noch Thomas Netzhammer aus Lörrach die Bühne, den eine besondere Beziehung mit Fabian Hambüchen verbindet.

Netzhammer stammt aus Erzingen, wo Hambüchen 2005 geturnt hat. Seine Mutter habe zwei Jungen in die Halle gebracht, die hätten wissen wollen, was dort los sei, erinnert sich Hambüchen – einer von ihnen war Netzhammer. Und seitdem habe er die Wettkämpfe in der Nähe immer selbst verfolgt, erzählt Netzhammer nach der Veranstaltung: „Auch Olympia angucken war Pflichtprogramm.“ Anfangs habe es auch persönlichen Kontakt gegeben. Und so war das Treffen bei der Veranstaltung ein besonderes Wiedersehen.