Harald Karge lotst den Pressevertreter in einen Verhörraum. Dieser ist mit Kameras ausgestattet, man kann das Verhör aus einem Nebenraum verfolgen. „Den Raum haben wir für Kinder so eingerichtet, damit bei einem Verhör nicht zu viele Menschen im Raum sind, die die Kinder einschüchtern könnten“, erzählt Karge. Nachteil des Verhörraums: Er bietet eine unverstellte Aussicht auf die Gleise am Singener Bahnhof und auf den Hohentwiel. „Wenn Jungen hier drin sind, müssen wir regelmäßig die Lamellen zuziehen, damit sie nicht von den Zügen abgelenkt sind“, sagt Karge und schmunzelt.
Harald Karge leitet seit 2020 den Kriminaldauerdienst (KDD) in Singen. „Damals ging es darum, die Einheit für das Polizeipräsidium Konstanz anzupassen“, sagt er. Den KDD gebe es nämlich schon seit 2014. Im Gebäude des Polizeireviers in der Julius-Bührer-Straße hat seine Abteilung ein eigenes Stockwerk. Seine Leute sind für den ganzen Bereich des Polizeipräsidiums Konstanz zuständig, der die Landkreise Konstanz, Schwarzwald-Baar, Rottweil und Tuttlingen umfasst. Ende Mai endet für den 60 Jahre alten Karge offiziell seine Dienstzeit bei der Polizei. Sein Nachfolger als Leiter des KDD wird Harald Seelig. Der Übergang werde nahtlos zum 1. Juni erfolgen, sagt Seelig, der schon mehr als 40 Jahre bei der Polizei ist. Derzeit hat er bereits eine leitende Funktion bei der Kriminalpolizei, zu der auch der KDD gehört.
Kriminaldauerdienst, das klingt nach Dauerstress und nach Ermittlern, die immer unter Strom stehen. Dafür wirkt Karge beim Gespräch vergleichsweise entspannt. Der KDD funktioniere wie eine Feuerwehr, sagt er. Am Wochenende könnte man mitunter gerne mehr Personal haben, an Wochentagen sei es ruhiger. Der KDD ist für die erste polizeiliche Reaktion bei Kriminalfällen zuständig und ist grob gesagt bei Fällen zur Stelle, die normalerweise die Kripo übernimmt, allerdings außerhalb von deren Dienstzeiten. Also Verbrechenstatbestände, die mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft werden.
Etwa die Hälfte der Arbeit fällt im Kreis Konstanz an
Etwa die Hälfte dieser Arbeit finde im Kreis Konstanz statt, der größte Teil vom Rest im Schwarzwald-Baar-Kreis, im Kreis Tuttlingen elf Prozent und im Kreis Rottweil nur sechs Prozent, sagt Karge. Der Standort Singen sei für den KDD wegen der Autobahn so gewählt worden. Mit Blaulicht sei man über die Autobahn sehr rasch in allen Ecken des Präsidiumsbereichs. Singen selbst sei dabei kein besonders kriminelles Pflaster, auch nicht im Vergleich zu Konstanz, sagt Karge. Doch bestimmte Delikte gebe es in Singen häufiger.
Schnell sein ist bei der Arbeit des KDD durchaus nötig. Denn es gehe auch darum, sogenannte vergängliche Spuren zu sichern, wie Blut oder anderes Material, das DNA eines Täters enthalten könnte. Wenn beispielsweise ein Verbrechen im Freien stattgefunden hat und es regnet, komme es auf Schnelligkeit an. Sonst gehen wertvolle Spuren verloren. „Wir versuchen, Laboratmosphäre schon vor Ort zu schaffen“, erzählt Karge – entsprechende Schutzausrüstung bis hin zum hermetisch abgeschlossenen Zelt inklusive. Um die Ergebnisse nicht zu verfälschen, müsse die Ausrüstung nach jedem Einsatz auch wieder DNA-frei gemacht werden.
Und er ergänzt: „Alles, was im Fernsehen gezeigt wird, ist in dieser Hinsicht falsch.“ Überhaupt, das Fernsehen. „Das hat in den seltensten Fällen etwas mit echter Polizeiarbeit zu tun“, sagt Harald Karge. Generell werde im Fernsehkrimi viel zu viel geschossen, um als realistisch im Bezug auf echte Polizeiarbeit durchzugehen. Schüsse auf Menschen seien bei ihm nie vorgekommen – und für Karge gehen immerhin 44 Dienstjahre bei der Polizei zu Ende.
Ein Einsatz in dieser langen Dienstzeit hat ihn besonders geprägt, nämlich der Flugzeugabsturz bei Überlingen im Jahr 2002. „Da hatte ich 15 tote Kinder an einem Tag“, erinnert er sich an seinen Teil des Einsatzes. Wegen der psychischen Belastung sei er danach erst einmal für einige Wochen in Kur gewesen, erzählt Karge, und: Inzwischen könne er offener damit umgehen. Danach sei er zur Schutzpolizei gewechselt, weg von einer Tätigkeit mit toten Menschen. „Seitdem habe ich auch sehr viel Verständnis für traumatisierte Menschen aus Kriegsgebieten“, blickt er zurück.
Hohenfels-Mord bleibt in Erinnerung
Aus seiner Zeit beim KDD ist ihm vor allem der Mordfall in Hohenfels im Januar 2021 in Erinnerung geblieben. Ein Mann hatte damals seinen früheren Arbeitgeber mit einem Beil getötet und dessen beide Söhne schwer verletzt. Das Urteil des Landgerichts Konstanz vom Oktober lautete auf lebenslange Freiheitsstrafe. Im Dezember wurde der verurteilte Mann tot in seiner Zelle im Freiburger Gefängnis aufgefunden. Eine Revision, die die Verteidigung eingelegt hatte, lief zu diesem Zeitpunkt noch, wurde aber hinfällig.
Harald Karge ist schon so lange im Polizeigeschäft, dass er sich auch Einschätzungen über das Leben bei der Polizei erlaubt, die nicht jedem Vorgesetzten passen dürften. So kritisiert er die jüngste Polizeireform, durch die die Präsidien in Baden-Württemberg ihren jetzigen Zuschnitt erhielten. 2018 kam er ins Projektbüro, das diese Reform aus dem alten Konstanzer Präsidiumsbezirk mit den Landkreisen Konstanz, Bodenseekreis, Ravensburg und Sigmaringen vorbereitete. Diesen früheren Bezirk habe er als sinnvoller empfunden, was Kriminalitätsbeziehungen angeht. Denn diese verlaufen nach seiner Einschätzung eher entlang dem Bodenseeufer. Die Kriminalpolizei habe nun aus politischen Gründen ihren Sitz in Rottweil, wo am wenigsten los sei.
Zur Ausbildung bei der Polizei hat er ebenfalls seine eigene Meinung. Sein Weg in die Polizeiarbeit führte über den mittleren Dienst, über die Arbeit auf Streife. Heute würden viele junge Polizisten über die Hochschule gehen und dort entscheide sich, ob jemand in den Streifendienst oder zur Kriminalpolizei gehe. „Das finde ich schlecht, denn Polizei ist ein Erfahrungsberuf“, lautet Karges Einschätzung dazu. Um Gewalt im sozialen Nahraum richtig einschätzen zu können, sei es unheimlich hilfreich, im Streifendienst einmal miterlebt zu haben, wie sich eine Familie hochschaukeln könne.
Auch Karges kommunalpolitisches Engagement beendete er indirekt wegen seiner Arbeit bei der Polizei. Die Mitgliedschaft bei der SPD habe er im Jahr 2020 nach etwa zehn Jahren zurückgegeben. Die damalige Co-Vorsitzende der Partei, Saskia Esken, hatte nach dem Tod des Schwarzen George Floyd bei einem Polizeieinsatz in den USA von latentem Rassismus auch bei der Polizei hierzulande gesprochen. Er habe einen Brief an seine Spitzengenossin geschrieben, erzählt Karge nun. Doch obwohl sich weitere SPD-Genossen dafür eingebracht hätten, habe er nie eine Antwort darauf erhalten. Karge sagt dazu: „Man darf nicht alles auf dem Rücken der Polizei austragen. Die Politik muss sich an ihre eigene Verantwortung erinnern.“
Zum Ende seiner Dienstzeit wirkt Harald Karge nachdenklich. „Man geht immer davon aus, dass ein Diebstahl ein Diebstahl ist“, sagt er. Doch wenn man den Einzelfall anschaue, gebe es immer viele Schattierungen. Vielleicht war das ja jemand, der fünf hungrige Kinder zu Hause hat, sagt er beim Gespräch im Verhörraum.