Die Anzahl der Anwesenden war zwar recht überschaubar, doch vielleicht sorgte gerade dieser kleine Kreis im Hostel Art and Style in Singen für die besondere Atmosphäre, die notwendig ist, um persönliche Innenansichten der Macht zu teilen. In ihrer ruhigen, sehr besonnenen Art erzählt Ann-Veruschka Jurisch von jenem Tag, als sie erfuhr, dass sie in den Bundestag gewählt wurde. Dabei habe sie das Gefühl gehabt, einem Orden beizutreten. Insbesondere habe der Ort selbst, der Sitz des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude in Berlin, das die FDP-Politikerin als Herzkammer der Demokratie bezeichnet, etwas Erhabenes.

Ein Blick in den Alltag im Bundestag

Die Besucher der Veranstaltung erhielten Einblick in Jurischs Alltag. Zwei Wochen im Monat halte sie sich beruflich in Berlin auf, die anderen beiden in ihrem Wahlkreis in Konstanz. Die Bundestagsabgeordnete ist dreifache Mutter und lobt ihren Mann, der sie nach Kräften unterstütze. Während sie sich in Berlin vor allem als Fachpolitikerin in Ausschüssen einbringt, ist sie in ihrem Wahlbezirk als Generalistin gefragt.

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Sie selbst habe eine steile Lernkurve hinlegen müssen. Zu Beginn habe sie in ihrer Naivität, wie sie es ausdrückt, geglaubt, das Parlament, also die Legislative, mache die Gesetze. Doch sie habe feststellen müssen, dass die Exekutive, also die Bundesregierung, extrem kontrolliere. Die FDP-Politikerin beschreibt das folgendermaßen: Die Gesetzesentwürfe kommen aus den jeweils zuständigen Ministerien, wobei die Mitglieder des Bundestages danach Änderungsvorschläge einbringen.

Im Alltag fehlt Zeit für die großen Dinge

Als Abgeordnete sei sie sehr im Tagesgeschäft gefangen und dadurch blieben zu geringe Freiräume für die großen Dinge. Dazu zählt Ann-Veruschka Jurisch die Frühwarnmechanismen, die sie für nicht ausreichend hält. Das zeige das Beispiel Afghanistan. Sie selbst ist im Untersuchungsausschuss zum Thema als ordentliches Mitglied aktiv. Der Ausschuss untersucht die Ereignisse rund um den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan. Ein weiteres Beispiel sei die immer größere Energieabhängigkeit von Russland, in die sich Deutschland in der Vergangenheit begeben habe. „Wir haben uns Illusionen hingegeben“, bilanziert Jurisch und fordert die Implementierung eines nationalen Sicherheitsrates.

Derzeit sei die Arbeit im Bundestag vom Krisenmanagement überlagert, berichtet Jurisch aus der politischen Praxis. Der Probleme gebe es viele, wie etwa der Krieg in der Ukraine, Rohstoffengpässe, unterbrochene Lieferketten und daraus resultierende Kostenexplosionen. Auch die arbeitenden Menschen fehlten aufgrund der alternden Gesellschaft. Das Land stagniere. Es brauche unbedingt Wachstum, sonst funktionierten die Sozialsysteme nicht mehr.

Arbeitseinwanderung ist ein fachlicher Schwerpunkt

Dann kommt die FDP-Abgeordnete auf die Arbeitseinwanderung, ihren aktuellen fachpolitischen Schwerpunkt, zu sprechen. Durch Einheimische könne der Personalmangel nicht gedeckt werden, wie sie konstatiert. In ihrem Wahlkreis Konstanz gebe es 8000 offene Stellen bei einer Arbeitslosenquote von drei Prozent, wovon die Hälfte Langzeitarbeitslose seien. In ganz Deutschland fehlten derzeit 760.000 Arbeitskräfte, was ein großes Wachstumshindernis darstelle. Nicht nur Akademiker und Fachkräfte fehlten, sondern auch Mitarbeiter für einfache Tätigkeiten. Man habe schon an vielen Stellschrauben gedreht, etwa an Hinzuverdienstgrenzen beim Bürgergeld, bei der Weiterbildung und bei der Absicht, mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu bringen, etwa durch mehr Kitas.

Doch zu einer Fachkräftestrategie gehöre auch das Thema Einwanderung, ohne die es nicht gehe. Und da hatte Jurisch gleich mehrere Botschaften dabei. Beim Thema Einwanderungspolitik stehe die CDU ideologisch auf der Bremse und behaupte, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Nach wie vor betrachteten die Ausländerbehörden all diejenigen, die aus einem anderen Land zu uns kämen, grundsätzlich mit Misstrauen, so Ann-Veruschka Jurischs Einschätzung. Man müsse endlich zu einer anderen Grundhaltung kommen. Die Verfahren zur Einwanderung seien zu lang und zu kompliziert, die Bearbeitung der Anträge dauere viel zu lange, auch wegen des Mangels an Personal und des Digitalisierungsstaus.

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Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das im Koalitionsvertrag vereinbart worden sei, liege nun als Referentenentwurf vor, der im März im Kabinett verhandelt und vielleicht noch im Sommer im Bundestag verabschiedet werden könne, wie die FDP-Politikerin hofft. Dazu erläutert sie die wesentlichen Inhalte: Kernstück soll die sogenannte Chancenkarte sein, wobei der praktischen Berufserfahrung mehr Gewicht beigemessen werden soll und der Blick weniger auf formelle Abschlüsse gerichtet ist. Das Potential der Menschen, die noch keinen Arbeitsvertrag in Deutschland haben, soll mithilfe eines Punktesystems – nach kanadischem Vorbild – ermittelt werden, wobei unter anderem Qualifikation, Sprachkenntnisse und Berufserfahrung berücksichtigt werden sollen.

Bei der abschließenden Fragerunde war die Politikerin wieder als Generalistin gefragt, wobei sie ihre Sicht der Dinge geduldig darlegte. Dabei ging es um folgende Themen: Deutschkenntnisse als Hemmnis bei der Fachkräfteeinwanderung, Diskriminierung bei Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche bei Menschen mit ausländisch klingendem Namen, auch die Willkommenskultur im Allgemeinen war ein Thema und nicht zuletzt sogar die Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen.