Seit Jahren schon versucht der Bundestag, sich selbst zu verkleinern. Alle Bemühungen sind bislang gescheitert. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Keiner sägt gerne an dem Ast beziehungsweise an dem Stuhl, auf dem er sitzt. Nun haben sich die Parteien der Ampel-Koalition SPD, Grüne und FDP auf ein Konzept geeinigt, das vor allem bei der Union auf Widerstand stößt.
Die schlechtesten Sieger schaffen es nicht
Kommt es wie geplant, und davon ist auszugehen, wird in Baden-Württemberg die CDU am meisten verlieren. Statt 33 Abgeordnete hätte die CDU-Landesgruppe nur noch 21 Mitglieder. Auch wenn die CDU bei der Bundestagswahl 2021 im Südwesten nur auf 24,8 Prozent der Zweitstimmen kam, hatte sie bei den Erststimmen die Nase vorn: Von den 38 Wahlkreisen in Baden-Württemberg gingen 33 Direktmandate an die CDU, vier an die Grünen und eines an die SPD. Dieses Missverhältnis führt bei den Ampelplänen zu Verlusten.
Bilger, Widmann-Mauz, Bareiß – auch Promis sind betroffen
Überträgt man die Ampel-Pläne auf die derzeitige Sitzverteilung hätten es die zwölf Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Prozentergebnis nicht in den Bundestag geschafft. Darunter wären nach Angaben der CDU-Landesgruppe auch so namhafte Politiker wie der parlamentarische Staatssekretär im Verkehrsministerium Steffen Bilger (Wahlkreis Ludwigsburg), die Tübingerin Annette Widmann-Mauz oder Thomas Bareiß (Wahlkreis Zollernalb-Sigmaringen).
Auch Diana Stöcker, Abgeordnete des Wahlkreises Lörrach-Müllheim hätte unter diesen Bedingungen den Platz im Bundestag verfehlt. Und das obwohl sie im September 2021 – wie alle anderen betroffenen Christdemokraten – mit 25,3 Prozent die meisten Erststimmen im Wahlkreis auf sich vereinigte.
Wahlsieger werden künftig bestraft, überall dort, wo es knapp hergeht. Denn die Ampel will Überhang- und Ausgleichsmandate ersatzlos streichen. Zur Erinnerung: Überhangmandate entstehen dort, wo eine Partei deutlich mehr Direktmandate erringt, als ihr laut Zweitstimmenanteil im jeweiligen Bundesland proportional zustehen. Bislang darf sie diese Direktmandate behalten. Damit es dennoch gerecht zugeht und die Zweitstimmenanteile im Bundestag korrekt abgebildet werden, schlägt man den anderen Parteien so genannte Ausgleichsmandate zu. Auch die fallen mit der Reform weg.
Das Gute daran: Der Bundestag besteht wieder aus den im Grundgesetz vorgesehenen 598 Abgeordneten – und kann sich nicht mehr beliebig aufblähen, derzeit auf die Rekordgröße von 736 Abgeordneten. Der Nachteil: Im Extremfall kann das neue Wahlrecht dazu führen, dass einzelne Wahlkreise durch gar keinen Abgeordneten im Bundestag vertreten sind.
Andreas Jung: „Das geht mir nicht in den Kopf“
Andreas Jung, der mit 34,1 Prozent der Stimmen im Wahlkreis Konstanz das Direktmandat gewann, müsste sich aktuell keine Sorgen machen. Der Vorsitzende der CDU-Landesgruppe sieht durch die Ampel-Pläne allerdings das demokratische Grundrecht in Frage gestellt. „Die Bürger haben einen Anspruch darauf, dass der direkt gewählte Kandidat sie dann auch im Bundestag vertritt“, sagt er dem SÜDKURIER. Jenseits der damit für seine Partei verbundenen Verluste, halte er es für unvorstellbar, dass ausgerechnet der Gewinner nicht mehr in den Bundestag einziehen sollte. „Das geht mir nicht in den Kopf.“
Tatsächlich benötigt die Ampel für die Umsetzung ihrer Pläne nicht die Zustimmung der Union. Änderungen am Wahlrecht sind mit einfacher Mehrheit durchsetzbar. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hat für den Fall einer Verabschiedung bereits mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gedroht.
Auch die anderen Parteien haben Verluste
So weit will Jung nicht gehen. Er hofft noch darauf, dass die Ampelkoalition eine gemeinsame Lösung mit der größten Oppositionspartei versucht. „Für eine Änderung des Wahlsystems muss man eine breite Mehrheit haben. Das ist sonst kein guter Stil“, sagt Jung. Ihm ist allerdings klar, dass auch die Union – die in der vergangenen Wahlperiode blockierte – sich dafür bewegen müsste. „Das Ziel eines verkleinerten Bundestags teilen wir ja“, so Jung. „Wir sind bereit, die Zahl der Wahlkreise deutlich zu reduzieren.“
Nicht nur die Union müsste übrigens bluten. Die AfD in Baden-Württemberg würde nach einer Berechnung der Wochenzeitung „Die Zeit“ nur einen Sitz verlieren, Jürgen Braun aus dem Wahlkreis Waiblingen wäre damit nicht im Parlament.
Auch die Ampel-Parteien selbst müssten dank ihrer Reform Verluste verbuchen: Weil im Gegenzug auch die Ausgleichsmandate wegfallen, würde die SPD in Baden-Württemberg vier Mandate verlieren, alle über die Landesliste bestimmt.
Betroffen wären demnach unter anderem Heike Engelhardt aus dem Wahlkreis Ravensburg, Derya Türk-Nachbaur aus dem Wahlkreis Schwarzwald-Baar und Takis Mehmet Ali aus dem Wahlkreis Lörrach-Müllheim. Für die Grünen im Land fielen drei Mandate weg. Und für die FDP zwei Mandate. Ann-Veruschka Jurisch, FDP-Abgeordnete aus Konstanz, hätte nach der Ampel-Methode ebenfalls den Einzug in den Bundestag verpasst.
Jurisch wäre raus – ist aber trotzdem dafür
„Mir ist bewusst, dass es für mich mit der geplanten Wahlrechtsreform nicht gereicht hätte bei der letzten Bundestagswahl“, sagt Jurisch, die ungeachtet dessen zum Ampel-Vorschlag hält: „Wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern schuldig, den Bundestag wieder zu einer vernünftigen Größe zurückzuführen.“ Dafür müsse eine rechtssichere Lösung gefunden werden, die zu einer Verkleinerung des Parlaments führe und gleichzeitig den Wählerwillen im Verhältniswahlrecht widerspiegele. „Für mich spielt mein eigenes Mandat bei der Debatte um die Verkleinerung keine Rolle.“
Joachim Behnke, Politik-Professor an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen und als ausgewiesener Wahlrechtsexperte selbst in der Kommission des Bundestags zur Wahlrechtsreform, erkennt im Ampel-Entwurf kein Demokratiedefizit. „Wenn wir die Verkleinerung des Bundestags in den Griff kriegen wollen, muss jede Partei etwas abgeben“, sagt er dem SÜDKURIER.
Etwa 20 Prozent ihrer Mandate büße jede Partei ein. Das seien bei Parteien wie CDU und CSU, die den Großteil ihrer Mandate direkt hole, dann eben auch Direktmandate. „Das ist trotzdem vollkommen ausgewogen und fair“, lautet seine Einschätzung. Die „hysterischen Reaktionen“ von Seiten der CSU seien unbegründet, so das Grünen-Mitglied. Das große Verdienst des Plans sei, dass die Soll-Größe des Bundestags zu 100 Prozent eingehalten werde, ohne dass eine Partei benachteiligt werde.
Mehr Wahlkreise werden ohne Vertreter sein
Dass Wahlkreis-Gewinner den Einzug verfehlen werden, hält Behnke für unproblematisch. „Klar, es ist ein echter Bruch mit den Gewohnheiten.“ Damit verbunden sei eine neue Vorstellung dessen, was zum Erringen eines Mandats gehört: Es genüge eben nicht mehr, eine relative Mehrheit im Wahlkreis zu erreichen. Bei Parteien, die mehr Erst- als Zweitstimmen erhalten, sei es dann eben genauso entscheidend, eines der besten Ergebnisse im Bundesland zu holen.
Behnke rechnet damit, dass künftig eher mehr als die drei bis vier Wahlreise, von denen die Ampelkoalition ausgeht, durch keinen eigenen Abgeordneten mehr vertreten sind. Aber das wäre nach seiner Ansicht kein Problem: „Der Wahlkreis müsste eben vom Abgeordneten des Nachbar-Wahlkreises mit vertreten werden. Für Abgeordnete von kleineren Parteien ist das heute schon selbstverständlich.“