Selbst Verteidiger Jürgen Derdus ist sich sicher: Sein Mandant sei schon fast ins Gangster-Milieu abgerutscht. Der 21-Jährige aus Singen, der jetzt in der Schweiz wohnt, habe versucht mit Drohungen Gelder aus mutmaßlichen Drogengeschäften einzutreiben, er solle wegen einer Lappalie einer Frau mit dem Leben gedroht haben. Der mehrfach Vorbestrafte bezahlte eine Geldstrafe nicht, die ihm aus vorherigen Vergehen auferlegt worden waren. Ein hoffnungsloser Fall? „Wir wissen es noch nicht“, sagt am Amtsgericht Konstanz Richterin Heike Willenberg.
„Das sind keine Bagatelldelikte“, stellt auch Anwalt Jürgen Derdus fest. Vor allem ein Vorfall an einer Tankstelle in Singen beschäftigt das Gericht: „Wie kann es passieren, dass Sie so abgehen?“, sagt der Verteidiger. „Warum flippt einer wegen einer Lappalie so aus?“, fragt Richterin Willenberg.
Was ist passiert?
Eine Frau parkt, wie es im Prozess heißt, an einer Tankstelle in Singen ihren Wagen etwas ungeschickt. Der Abstand zum Auto, in dem der muskulöse Angeklagte sitzt, wird dadurch gering. Dieser behauptet, er habe nur schwer aussteigen können. Vor Gericht werden Aufzeichnungen einer Kamera an der Tankstelle betrachtet. Die Richterin sagt: „So nah erscheint mir das nicht.“
Als Zeugin vor Gericht berichtet die Autofahrerin, der Angeklagte habe sie angepöbelt und mit dem Leben bedroht. Er habe gedroht, er werde ihr das Gesicht zerfetzen, er habe eine Waffe. Das habe ihr Angst gemacht. Sie habe zuerst nur so getan, als würde sie die Polizei rufen, auf dem Parkplatz eines Supermarkts habe sie dies dann tatsächlich getan. Sie sei dann noch am selben Abend auf die Wache, um den Fall zu Protokoll zu geben. Ihr sei nicht wohl mit der Aussage am Amtsgericht. Sie fürchte vom Angeklagten wieder angegangen zu werden. Sie habe diesen nicht beleidigt.
So schildert es der Angeklagte
Der Angeklagte behauptet, die Frau habe ihn bedroht, und er habe im Gegenzug gefragt, ob sie aus der Psychiatrie ausgebrochen sei. Auf Aufforderung der Richterin entschuldigt er sich bei der Frau für den falschen Ton. Er habe sicherlich überreagiert, aber eine Bedrohung habe es nicht gegeben. Die Richterin aber sagt zur Aussage der Frau: „Für mich kam das authentisch rüber. Ich glaube der Zeugin.“ Warum sollte sie sich die Mühe machen, die Polizei zu holen und abends aufs Revier zu gehen, wenn nichts vorgefallen ist, lautet die Frage der Richterin.
Dunkle Geschäfte im Drogenmilieu
Einen Fall versuchter räuberischer Erpressung an einem Haus in Singen räumt der Angeklagte ein. Es geht um Gelder aus mutmaßlichen Drogengeschäften. Der Angeklagte sagt, man hätte diese nicht einklagen können. Für das Gericht hört sich das an, als ob aus krummen Geschäften stammen. Der Angeklagte soll laut Zeugen der Wortführer unter mehreren Personen gewesen sein. Laut Polizeiprotokoll forderte er 500 Euro sofort, eine Stunde später seien schon 2000 Euro fällig. Und er drohe unter anderem, dass ein Auto auch brennen könne. Die Forderungen richten sich an den Sohn des Hausherrn, doch dieser ist nicht laut Polizeiprotokoll gar zuhause. Der Hausherr macht Fotos von dem Mann und verständigt die Polizei. Per Gesichtserkennung gelingt es den Ermittlern, den Angeklagten ausfindig zu machten.
Im Prozess geht es auch um Schwarzfahrten. Richterin Heike Willenberg sagt, warum sie diese Delikte nicht einstellen will: Sie habe das Gefühl, der Angeklagte mache, was er wolle. Nachdem der junge Mann schon mehrfach beim Fahren ohne Ticket erwischt wurde, war es am 12. und 13. Mai 2022 wieder so weit. An beiden Tagen wurde er in der Bahn kontrolliert. An beiden Tagen hatte er nicht den erforderlichen Fahrschein.
Gericht gewährt dem 21-Jährigen eine letzte Chance
Also alles aussichtslos? Nein. Ein Vertreter der Jugendhilfe erklärt den Lebenslauf des 21-Jährigen, der nie einen Schulabschluss geschafft hat und als Sorgenkind galt. Seit August sei er dabei, seinem Leben eine Wende zu geben. Er bewähre sich bei Arbeit in der Schweiz und hat eine Freundin, die er heiraten möchte. Aber er hatte einen schweren Start, so die Aussagen der Jugendgerichtshilfe. Er sei ohne Orientierung aufgewachsen. Der Vater habe die Familie verlassen, ein Ersatzvater ebenfalls. Viel zu jung habe er sich um seine schwer kranke Mutter kümmern müssen. Ständig habe er Angst um das Leben seiner Mutter gehabt. Der Angeklagte bedeckt seine Augen, als er das hört. Es ist zu sehen, dass er weint. Laut Jugendgerichtshilfe habe er den Arrest als wohltuend empfunden. Der junge Mann habe es nicht gekannt, dass man sich um ihn kümmert. Dass bei ihm Jugendlicher ADHS festgestellt wurde, wird vor Gericht berichtet. Nur mit Medikamente habe er sich konzentrieren und fokussieren können. Wie wichtig es für den Mann ist, Energie loszuwerden, zeigt eine Aussage: „Ich bin abends nicht ausgelastet. Ich überlege, einen Kampfsport zu machen“, sagt er vor Gericht aus. Und dies, obwohl er viel körperlich arbeitet.
Mit dem Urteil des Jugendschöffengerichts in Konstanz bekommt der Angeklagte die allerletzte Chance zu zeigen, dass er auf einem guten Weg ist. Es folgt in vielen Punkten der Staatsanwältin. Auch der Verteidiger stellt fest, es sei nachvollziehbar, dass eine Verwarnung nicht ausreicht. Der 21-Jährige muss 4000 Euro an die Lebenshilfe in Singen zahlen und steht eineinhalb Jahre lang unter verschärfter Beobachtung. Wenn bis dahin nochmal etwas vorfällt, wird bei einer neuen Verhandlung eine Jugendstrafe festgelegt. Es handelt sich um einen Schuldspruch nach Paragraf 27 des Jugendstrafrechts.
Das Urteil ist rechtskräftig. Alle Parteien verzichten darauf, Rechtsmittel einzulegen. Der Angeklagte wird derzeit per Haftbefehl gesucht, weil er eine Geldstrafe über 450 Euro nicht bezahlt hat. Dies will er schleunigst nachholen. Die Richterin macht darauf aufmerksam, dass ihn auch die Staatsanwaltschaft in Frankfurt suche. Sie empfiehlt, zusammen mit dem Verteidiger das Problem anzugehen.