Birgit Kloos ist sauer: „Zwei Jahre lang waren wir gut für die Bekämpfung der Corona-Pandemie“, sagt sie. Und nun werde man hängengelassen. Kloos ist Hausärztin mit Praxis in Singen, Notfalldienstbeauftragte für die Stadt und Pandemie-Beauftragte des Landkreises. Praktisch übernimmt sie die Rolle einer Sprecherin der Singener Hausärzte. Was ihren Unmut erregt, sind verschiedene Entwicklungen in der Gesundheitspolitik. Darunter ist der Plan des Bundesgesundheitsministeriums, die Terminserviceregelung für Neupatienten wieder zu streichen. Und auch der Fortgang der Honorarverhandlungen zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den gesetzlichen Krankenkassen erregt ihren Unmut.
Und nicht nur ihren, sondern auch den von einer Reihe weiterer Hausärzte in Singen. Sie haben sich entschlossen, an einem landesweiten Protesttag des Hausärzteverbandes am Mittwoch, 19. Oktober, teilzunehmen. Patienten, die an diesem Tag zum Hausarzt müssen oder wollen, werden dann in vielen Singener Praxen vor verschlossenen Türen stehen. „Die Notfallversorgung bleibt aber auf jeden Fall bestehen“, betont Kloos.
Neuregelungen haben direkte Auswirkungen auf Patienten
Die Entwicklungen, um die es den Ärzten geht, hören sich zunächst einmal sehr technisch an. Doch sie haben unmittelbare Auswirkungen auf Praxen und Patienten. Die Terminserviceregelung wurde erst 2019 unter Gesundheitsminister Jens Spahn eingeführt, damit Menschen, die noch nicht zum Patientenstamm einer Praxis gehören, leichter einen Termin bekommen. Dazu wurden die Terminservicestellen ausgebaut und die Sprechzeiten der Vertragsärzte erhöht. Außerdem war das Gesetz mit finanziellen Anreizen verbunden, unter anderem für die Versorgung von neuen Patienten, wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung und das Bundesgesundheitsministerium übereinstimmend informieren.
Wie diese Regelung in der Praxis aussah, schildert Birgit Kloos so: Jede Arztpraxis habe pro Quartal ein bestimmtes Budget zur Verfügung, für das sie Patienten behandeln kann. Überschreite eine Praxis dieses Budget, bekomme sie die gewissermaßen überzähligen Leistungen nicht bezahlt. Für Menschen, die neu von einem Arzt behandelt werden wollen, hat das eine gravierende Nebenfolge: Sie finden keinen Arzt mehr, der sie noch behandelt.
Die Regelung beim Terminservice sah zuletzt so aus, dass Neupatienten vom Budget ausgenommen waren: „Die Praxen bekommen die Arbeit mit diesem Patienten auf jeden Fall vergütet, auch wenn das Budget eigentlich schon ausgeschöpft ist“, erklärt Kloos. Ein höheres Honorar für die Arbeit mit diesen Patienten sei damit aber nicht verbunden gewesen. Dass diese Regelung für Neupatienten wieder gestrichen werden soll, rief schon früh Protest der Kassenärztlichen Vereinigungen hervor. Ein Wegfall führe zu „noch längeren Wartezeiten“ auf Termine bei Haus- und Fachärzten, heißt es nun auch in der Mitteilung der Singener Ärzte.
Gerangel um Inflationsausgleich ärgert Ärzte
Auch die Entwicklung bei den Honorarverhandlungen für das nächste Jahr ärgert Kloos. Denn es gibt Gerangel um den Inflationsausgleich bei den Honoraren. In jedem Jahr würden diese um die Inflation des vorigen Jahres steigen. 2023 würden die Honorare dann aufgrund der Inflation des Jahres 2021 ausgeglichen. Nun habe die Kassenärztliche Bundesvereinigung gebeten, den Ausgleich für 2023 anhand der Werte des Jahre 2022 zu berechnen: „Hohe Energiekosten betreffen auch Arztpraxen“, so Kloos. Dagegen würden sich die Krankenkassen allerdings wehren.
Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen, der die Verhandlungen führt, argumentiert, dass die niedergelassenen Ärzte allein 2020 2,1 Milliarden Euro mehr von den Kassen erlöst hätten. Auch Corona-Impfungen hätten den Praxen viel Geld gebracht. Kloos kontert wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung, dass die Verwaltungskosten der Krankenkassen stark angestiegen seien. Und staatliche Prämien für die Angestellten in den Arztpraxen habe es auch nicht gegeben, das hätten die Praxen auf eigene Rechnung zahlen müssen, erklärt sie.
Aufgrund dieser Entwicklungen befürchten die Singener Ärzte in ihrer Mitteilung nun, dass die Menschen künftig schlechter ambulant versorgt werden können. Denn durch die Änderungen werde es immer schwieriger, Personal zu finden. Mitarbeiter würden außerdem vermehrt krankheitsbedingt ausfallen. Daher müssten sogar bereits Sprechzeiten reduziert werden.
Schon jetzt sind Hausarztsitze frei – und der Mangel wird noch größer
Außerdem werde sich der Betrieb bald wirtschaftlich nicht mehr tragen. Die Ärzte befürchten laut der Mitteilung eine „noch schnellere Schließung von Hausarzt- und Facharztpraxen“. Eine Nachbesetzung von Arztsitzen durch jüngere Kollegen werde unwahrscheinlicher. Schon jetzt seien diese Entwicklungen spürbar, sagt Birgit Kloos: „In Singen sind sechs oder sieben Hausarztsitze frei.“ Im nächsten Jahr würden zwei weitere Kolleginnen aufhören, die bislang keine Nachfolger gefunden hätten.
Stattdessen gehen die Menschen in die Notfallaufnahme des Krankenhauses, und zwar auch mit Krankheiten, die dort nicht hingehören. Und das obwohl die niedergelassenen Ärzte eine Notfallpraxis in den Räumen des Singener Krankenhauses betreiben. Dass die Stadt ein medizinisches Versorgungszentrum gründen will, ist daher in ihren Augen richtig: „Das sichert die Versorgung. Die Praxen werden das perspektivisch nicht mehr leisten können.“
Die Ankündigung der Praxisschließung in Singen endet mit einem Appell an die Patienten: „Bitte haben Sie Verständnis für diese Maßnahmen und stehen Sie an unserer Seite.“