Vor einem Jahr war plötzlich Schluss. Schön lange Ferien, dachte sich womöglich der eine oder andere, als die Schulen einige Tage früher als geplant in die Weihnachtsferien gingen. Doch dann machten sie erstmal nicht mehr auf, blieben bis Ende Februar im Corona-bedingten Notbetrieb. Schülern fehlte nicht nur der direkte Unterricht im Klassenzimmer, sondern auch der Austauscht mit Freunden. Die gesamte Struktur sei verloren gegangen – und das habe tiefe Spuren hinterlassen, wie Marietta Schons dem SÜDKURIER erklärt. Sie ist nicht nur Schulsozialarbeiterin am Hegau-Gymnasium, sondern hat als Abteilungsleiterin auch Einblick in die Arbeit ihrer 19 Kollegen an den Grund- und weiterführenden Schulen der Stadt. Gemeinsam seien sie für etwa 5400 Schüler in Singen zuständig.

Jetzt steigt die Belastung – auch die psychische

Dabei zeige sich erst jetzt, wie groß die Not wirklich sei. Denn nach den ersten Monaten im neuen Schuljahr standen die ersten Prüfungen an. Da habe sich die große Not vieler Schüler gezeigt. „Wir haben viele Schüler mit hohen psychischen Belastungen. Wir haben auch Schulverweigerer, die sagen, dass sie das nicht schaffen, weil sie nicht wissen, wo sie stehen.“

Marietta Schons
Marietta Schons | Bild: Marietta Schons

Wie sehr die Pandemie die Schüler beeinflusst hat? Auf diese Frage findet Marietta Schons keine einfache Antwort. „Sehr“, sagt sie, doch das habe viele Facetten. Natürlich gebe es auch einige, die mit dem Lockdown und den Einschränkungen gut umgehen konnten. Doch die meisten hätten gelitten, einige davon sogar sehr. Die erfahrene Schulsozialarbeiterin schildert die Situation auf Grundlage ihrer 20-jährigen Erfahrung drastisch: „Die Persönlichkeitsentwicklung ist weggefallen“ und Kinder hätten nicht die Möglichkeit gehabt, sich in einer Gemeinschaft zu entfalten. Dadurch hätten sie jetzt beispielsweise Probleme, Kontakte zu knüpfen oder Konflikte zu lösen.

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Leistungen seien das eine, dort würden Einbrüche sich erst in Zukunft wirklich zeigen. „Das jetzige Schuljahr ist, wo Schüler gucken müssen und wollen, wo sie stehen.“ Größeres Thema sei die Belastung von Kindern und Jugendlichen, die sich sorgen, den Anschluss verpasst zu haben. Gerade Schüler der achten, neunten oder zehnten Klasse hätten ihr immer wieder gesagt, dass sie vergessen worden seien.

Auch gute Schüler stürzten ab

Dabei gibt es laut Schons keine Gruppe, die besonders auffalle: „Es betrifft auch Schüler, die davor völlig unauffällig waren. Da hätte man nie gedacht, dass sie so psychisch belastet sind und jeglichen Halt verloren haben, obwohl sie bisher gute Noten geschrieben hatten.“ Man könne aber sagen, dass es für Schüler aus prekären Verhältnissen noch schwieriger geworden sei.

Die Befürchtung, dass Kinder und Jugendliche im Lockdown zuhause Gewalt erfahren könnten, habe sie sehr umgetrieben. Bei Familien, wo das zu befürchten gewesen sei, habe man den Kontakt gesucht. Ob es tatsächlich mehr Gewalt gab, könne sie aber nicht sagen.

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Unabhängig davon sei es manchen Familien schlicht nicht möglich gewesen, an digitalem Unterricht teilzunehmen, wenn beispielsweise für drei Kinder nur ein Laptop zur Verfügung stand. „Selbst wenn dann Endgeräte zur Verfügung gestellt wurden, ist die Frage, ob Schüler diese nutzen können. Das wurde ihnen ja nie beigebracht“, sagt Marietta Schons. Und digitale Gespräche könnten den Austausch nicht ersetzen: „Man vereinsamt vor diesem Bildschirm.“

Die Schulsozialarbeiter hätten alle Hände voll zu tun, solche Folgen der Pandemie aufzufangen. Ganz wichtig sei in Zeiten der Schulschließung gewesen, dennoch präsent zu sein: In Notgruppen, auf Kommunikationsplattformen, über Lehrer oder mit Hausbesuchen. „Man stand auch bei Schülern vor der Tür und hat gesagt, dass man sich Sorgen macht.“ So sei es gelungen, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Nach der Rückkehr in die Schule hätten dann einige Schüler selbst den Kontakt gesucht, auch Lehrer oder Eltern wandten sich an die Schulsozialarbeiter.

Es mangelt an Therapeuten

Erstmal stehe die Einzelfallhilfe im Fokus: „Wir versuchen mit verschiedenen Methoden, die psychischen Belastungen auf zu fangen“, erklärt Schons und nennt als Beispiele Entspannungstraining, das Erarbeiten von Stressbewältigungs-Strategien oder den Umgang mit Panikattacken. Im Frühjahr wurden 850 Schüler an allen Schulformen befragt, unter welchen Situationen sie am meisten leiden. Auf dieser Grundlage hätten die Schulsozialarbeiter dann Maßnahmen entwickelt.

Aber: „Es ist eine ganz schwierige Situation“, denn es gebe zu wenig Experten. Eigentlich würden sie in der Schulsozialarbeit vor allem zuhören und dann an Therapeuten vermitteln. Die hätten aber häufig keine Kapazitäten mehr.

Der Mangel an Therapeuten sei groß und durch die Pandemie noch verstärkt, fasst Marietta Schons zusammen.

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Deshalb hätten sie sich nun Techniken zur Soforthilfe angeeignet, um in akuten Situationen gut reagieren zu können. Allgemein beobachtet die Schulsozialarbeiterin, dass Themen gravierender werden: Dass ein Schüler Hilfe suche, weil er unglücklich verliebt sei, komme momentan weniger vor. Stattdessen gehe es immer wieder um Gefährdungen, etwa wenn Jugendliche über Suizid nachdenken.

Aufarbeitung wird dauern

Angesichts der jetzt schon großen Folgen der Pandemie hofft Marietta Schons inständig, dass die Schulen nach diesen Weihnachtsferien geöffnet bleiben. „Sonst würden die Kinder wieder in ein Loch fallen.“ Außerdem sei es ein Vertrauensverlust, wenn Erwachsene nicht wahr machen, was sie angekündigt haben. Aktuell zeigt die Schulsozialarbeiterin noch ein wenig Zuversicht: „Es wird dauern, die Corona-Folgen aufzuholen. Aber noch ist es möglich.“ Sie gebe die Hoffnung nicht auf, dass irgendwann endlich wieder alles normal werde.

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Schulsozialarbeit und ihre Bedeutung

  • 20 Jahre ist die Schulsozialarbeit ist in Singen seit 20 Jahren aktiv. Zur Feier im Juli gab es viele lobende Worte für die Sozialarbeiter, die auch Streitschlichter, Berufsberater, Vertrauenspersonen und Mutmacher sind. Laut Abteilungsleiterin Marietta Schons ändert sich ihre Arbeit ständig: Man könne heute nicht mehr so vorgehen wie noch vor drei Jahren. Fälle würden viel intensiver und komplexer, hat sie beobachtet. Auch Digitalisierung und neue Medien seien ein Thema, denn heute fänden Konflikte auch im digitalen Raum statt.
  • Die Politik würdigt den Einsatz der Beteiligten und unterstreicht ihre Notwendigkeit. Die Grünen-Landtagsabgeordnete Dorothea Wehinger führte Mitte Dezember ein digitales Fachgespräch und erklärte dabei, dass laut eine Studie des Robert-Koch-Instituts 22 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten entwickelten. Die Aufstockung von Schulsozialarbeit sei eine Möglichkeit, um Schülern zu helfen. „Angesichts der schwierigen Folgen der langen Zeit des Homeschoolings im vergangenen Jahr tut die Landesregierung alles dafür, die Schulen in dieser vierten Welle offen lassen zu können“, versprach sie. Jüngst befasste sich auch der SPD-Landtagsabgeordnete Hans-Peter Storz mit dem Thema und war an der Johann-Peter-Hebelschule in Singen. Dort sagte Michaela Benz-Riede als Koordinatorin der Haupt- und Werkrealschule: „Wir brauchen dringend pädagogische Assistenzen und mehr Schulsozialarbeit.“ Das würde die Schüler beim alltäglichen Lernen unterstützen und den Umgang zwischen Lehrkräften und Schülerschaft erleichtern, heißt es in der Mitteilung. (isa)