Anina Kemmerling

Der Angeklagte ist gerade einmal 21 Jahre alt. Er ist mehrfach vorbestraft und sitzt derzeit bereits seine zweite Freiheitsstrafe ab. Mit Fußfesseln wird er dem Richter im Amtsgericht Singen vorgeführt. Es ist ihm anzumerken, dass es nicht sein erstes Mal vor Gericht ist. Er wirkt auffallend entspannt.

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, in der Zeit zwischen seiner ersten und jetzigen Haftstrafe eine 19 Jahre alte Bekannte sexuell belästig und genötigt zu haben. Außerdem soll er im selben Zusammenhang eine Köperverletzung begangen haben.

Kaum aus der letzten Haft entlassen

Wenige Monate nach seiner Entlassung aus der Jugendstrafanstalt im Dezember 2019, soll der junge Straftäter die Geschädigte und einen gemeinsamen Freund zufällig in Radolfzell getroffen haben, so steht es in der Anklage. Aus Freude über das Wiedersehen hätten sich die drei Beteiligten spontan dazu entschlossen, am See etwas zu trinken.

Wie es in der Anklageschrift weiter heißt, sei es dort dann zur sexuellen Belästigung gekommen. Sie hätten gemeinsam auf einer Parkbank gesessen.

Wiedersehensfreude schlägt schnell um

Der Angeklagte habe den Freund dann dazu aufgefordert, aufzustehen, sodass er direkt neben der 19-Jährigen sitzen konnte. Dann habe er das Mädchen auf seinen Schoß gezogen, angefangen, sie am Hals zu küssen und am ganzen Körper zu streicheln und ihr in den Oberschenkel zu beißen.

Weder das Mädchen noch der Freund hätten sich zum Tatzeitpunkt gegen die Übergriffe gewehrt. Sie seien beide unter Schock gestanden, wie sie in einer späteren Polizeiaussage beteuert hätten.

Polizei muss erstmals eingreifen

Später seien sie zu dritt mit dem Zug nach Singen gefahren. Am Bahnhof sei es dann zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und dem Freund gekommen, da der 21-Jährige gesagt habe, dass er den restlichen Tag mit dem Mädchen allein verbringen wolle.

„Wir diskutierten kurz. Dann schlug er mir mit der Hand aufs Ohr. Zweimal glaube ich“, so der Geschädigte als Zeuge vor Gericht. Zwei Polizeibeamte wurden auf die Auseinandersetzung aufmerksam. Sie beruhigten die Lage und sagten Beteiligten, dass sie sich in verschiedene Richtungen entfernen sollen. Der Angeklagte ging laut Anklage mit dem Mädchen in die Stadt. Der Geschädigte fuhr allein zurück nach Radolfzell.

Angeklagter auffällig betrunken

Die Polizei habe an diesem Tag aber noch ein weiteres Mal eingreifen müssen. „Gegen 14.25 Uhr am Tattag beobachteten wir den Angeklagten, wie dieser sichtbar angetrunken auf Gleis zwei hin und her torkelte. Er ging immer wieder zur jungen Klägerin, gab dieser einen Kuss und entfernte sich“, beschreibt einer der Polizisten, der in Singen vor Ort war.

Sie hätten wie ein Paar gewirkt, das sich streitet. „Als der Zug Richtung Konstanz einfuhr, ist nur der Angeklagte eingestiegen und das Mädchen lief uns aufgelöst in die Arme“, so der Beamte.

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Auf Nachfrage der Polizisten habe sie erzählt, was vormittags passiert war. Dass das alles gegen ihren Willen geschah und dass der junge Mann sie am Bahnsteig bedroht habe. „Er sagte, er würde seine Leute auf mich hetzen, würde ich jemandem davon erzählen“, so das Mädchen.

Die Liste der Straftaten ist lang

Bis es zur Verhandlung in dieser Strafsache kam, ließ sich der Angeklagte noch mehr zu Schulden kommen, weswegen er erneut ins Gefängnis kam. Die Liste seiner Vorstrafen ist lang. Darunter fallen Diebstahl, Beleidigung, Trunkenheit im Verkehr, Fahren ohne Führerschein, Urkundenfälschung und unerlaubter Waffenbesitz.

Der Prozess vor dem Amtsgericht sollte nun über eine Verlängerung seiner derzeitigen Haftstrafe entscheiden.

Beschuldigter leugnet Tat

„Als ich meinem Mandanten in der Haft anrief und erzählte, was ihm von der Klägerin vorgeworfen wird, wusste er gar nicht, wovon ich spreche“, sagt dessen Verteidiger vor Gericht. Die Ohrfeige habe er sofort zugegeben, doch nie habe er jemanden sexuell belästigt, so der Anwalt weiter. „Ich wollte nie was von der“, erklärte der Beschuldigte vor Gericht.

Er bestritt alles, was ihm von der 19-Jährigen vorgeworfen wird. Seine Aussage sollte durch Zeugenaussagen geprüft werden. Doch die Vernehmung dieser wurde Richterin Daniela Krack, zwei Schöffen und der Staatsanwaltschaft schwer gemacht. Denn die beiden Geschädigten wollten vor dem Amtsgericht keine Aussagen mehr zur Tat machen.

Zeugen geben an, bedroht zu werden

Sie gaben beide an, Angst vor den Folgen ihrer Vernehmung zu haben und zu befürchten, von der Familie des Beschuldigten angegriffen zu werden. „So einfach geht das nicht. Als Zeugen müssen sie vor Gericht aussagen und uns bei der Wahrheitsfindung helfen.

Ansonsten müssen sie selbst mit Konsequenzen rechnen“, belehrt die Richterin die beiden Zeugen. Doch auch das konnte sie zunächst nicht umstimmen. „Werden sie bedroht?“, fragte Krack direkt. Beide bejahten das.

Freund des Angeklagten fällt Aussage schwer

Insbesondere der geschädigte Freund ließ sich seine Unsicherheit anmerken. Er zitterte, stotterte und sagte selbst: „Merken sie nicht, wie schlimm das hier für mich ist? Das alles belastet mich sehr. Ich kann nur sagen, dass der Angeklagte ein guter Mensch ist. Er ist immer da, wenn man ihn braucht.“

Auch die 19-jährige Zeugin gab an, längst mit dem Geschehenen abgeschlossen zu haben. Erst als der Angeklagte von der Richterin von der Zeugenvernehmung ausgeschlossen wurde, ließen sich die beiden auf die Vernehmung ein.

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Dabei gab der 21-Jährige an, bei der ursprünglichen Polizeivernehmung nicht gelogen zu haben. Die sexuelle Belästigung und die Ohrfeige seien passiert, doch er erinnere sich kaum noch an etwas. Aus der Klägerin lockte Richterin Krack mehr Details, die ihre Aussagen am Tattag und bei der Polizeivernehmung untermauerten.

Vier Monate länger im Knast

„Auch wenn uns die Zeugenvernehmung erhebliche Schwierigkeiten bereitet hat, konnte der Sachverhalt, nach Ausschluss des Angeklagten aus der Zeugenvernehmung, weitestgehend bestätigt werden“, plädiert die Staatsanwaltschaft. Sie hielt die Aussagen der Polizeibeamten und der Klägerin für glaubwürdig, sprach sich aber für einen minderschweren Fall der sexuellen Belästigung aus.

„Der Beschuldigte griff nicht in die Intimzone oder unter die Kleidung des Opfers“, begründete sie die Entscheidung. Richterin Daniela Krack und die Schöffen stimmten der Staatsanwaltschaft zu. Auch sie sahen den Tatbestand bestätigt und verurteilten den Vorbestraften wegen sexueller Belästigung, Nötigung und Körperverletzung zu einer Verlängerung seiner Haftstrafe um vier Monate.

„Wir haben es hier mit einem intellektuell deutlich überlegenen Täter zu tun, der die Unterlegenheit seiner Opfer ausnutzte. Doch mit seiner Abwesenheit bei der Vernehmung konnte seine Unschuld widerlegt werden“, so Krack bei der Urteilsbegründung.