Heute Abend wäre es soweit gewesen – das Hohe Grobgünstige Narrengericht zu Stocken hätte traditionell einem Politiker in der Jahnhalle den Prozess gemacht und ihn zu einer mehr oder weniger saftigen Weinstrafe verdonnert. Doch daraus wird nun zum ersten Mal seit Jahrzehnten nichts: Die Verhandlung wurde wegen Corona abgesagt.
Schade finden das nicht nur Stockacher, sondern auch Politiker, die bereits selbst ihre Erfahrung mit dem Narrengericht machen durften – auch, wenn die Empörung über das Urteil zum Teil noch tief zu sitzen scheint. Der SÜDKURIER hat einige ehemalige Beklagte darum gebeten, sich zum Ausfall der Gerichtsverhandlung zu äußern. Zwei von ihnen haben sich zurückgemeldet.
Cem Özdemir
Ex-Grünen-Chef Cem Özdemir vermisst die närrische Geselligkeit, zieht Parallelen zu seiner Verhandlung im Jahr 2020 – und gibt dem Narrengericht eine Idee für eine alternative Strafe mit, die sich in Corona-Zeiten als nützlicher als Wein erweisen könnte:
„Mit unzähligen Menschen dicht an dicht in einer Halle sitzen, gemeinsam singen, schunkeln und lachen – wie freue ich mich auf den Tag, wenn das wieder möglich ist! Fast bin ich geneigt, meine eigene Verhandlung rückblickend zu verklären, obwohl ich längst nicht so glimpflich davon gekommen bin, wie der SÜDKURIER behauptet! In nur einem von drei Anklagepunkten wurde ich für schuldig befunden und trotzdem zu skandalösen drei Eimern (180 Liter) Strafwein verurteilt. Hans Kuony wird im Grab rotieren angesichts eines solch abgekarteten Spiels.“
„Ohnehin haben selbst die Hohen Grobgünstigen im letzten Februar nicht erahnt, was da auf uns zukommt, sonst hätten sie mich wohl besser zu zwei Paletten Klopapier und einer Wagenladung Nudeln verknackt. Nun haben sie aber ihren Wein, der natürlich ordnungsgemäß geliefert wurde. Die feierliche Übergabe steht freilich noch aus – Infektionsschutz hat Priorität! Wie gut, dass sich das Stockacher Narrengericht in diesem Jahr um alternative digitale Fasnachtsprojekte bemüht, denn ein bisschen Lachen, das können wir alle derzeit gut gebrauchen.“

„Als ich vor rund einem Jahr angeklagt war, wurde dieser fröhliche Tag überschattet: An jenem 19. Februar 2020 wurden im hessischen Hanau neun Mitbürgerinnen und Mitbürger aus rassistischen Motiven ermordet. Den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, meinen Zeugen vor Gericht, mir und vielen weiteren Narren ist es sehr schwergefallen, angesichts dessen in ausgelassene Fasnachtsstimmung zu verfallen. Wir entschieden uns trotzdem aktiv dafür, denn wir wollten den Rechtsradikalen, die den inneren Frieden unserer Gesellschaft brechen wollen, keinen Raum geben.“
„Weil sie so einen Beitrag für eben diesen inneren Frieden leistet, ist die schwäbisch-alemannische Fasnacht zurecht immaterielles Kulturerbe der Unesco. Wir halten zusammen – diese Botschaft war vor einem Jahr wichtig, sie ist es heute und sie wird es bleiben.“
Alexander Dobrindt
CSU-Politiker Alexander Dobrindt, bei seiner Verhandlung 2016 noch Bundesverkehrsminister, schlägt dem Narrengericht sogar vor, im kommenden Jahr nach der Corona-Krise sein Konzept zu überdenken – solange nur kein Parteikollege nach Stockach kommt:
„Der Ausfall des Hohen Grobgünstigen Narrengerichtes zu Stockach ist ein Glücksfall für diejenigen, denen dringend die große Ehre zu Teil werden sollte, auf der Anklagebank zu sitzen – und ein Trauerfall für all jene, die erwarten, dass deren Vergehen endlich ihrer gerechten närrischen Strafe zugeführt werden. Vor diesem Hintergrund rege ich für das kommende Jahr an, erstmalig in der Stockacher Geschichte mehrere Angeklagte vor das altehrwürdige Hohe Gericht zu stellen. Dies einmal mehr, da der bevorstehende Wahlkampf zur Bundestagswahl mit Sicherheit viele Anlässe bieten wird, mehrere Vergehen zur Anklage zu bringen.“
„Wichtig wäre dabei zu beachten, keinen Politiker der CSU auf die Anklagebank zu führen, da der traditionelle Turnus eine Nicht-Befassung des Gerichtes mit christlich-sozialen Politikern von mindestens 37 Jahren vorsieht. So lange dauerte es vom ersten CSU-Angeklagten Franz Josef Strauß zum zweiten Angeklagten Alexander Dobrindt im Jahr 2016. Mit dieser Tradition sollte man nicht brechen. Alles andere wäre nun wirklich zu viel der Ehre für die CSU!“