„Der wilde Mai 2022“ – von dem spricht Richterin Heike Willenberg an diesem Tag im Konstanzer Jugendschöffengericht mehrmals. Denn innerhalb weniger Wochen eskalierte eine Geschichte, die sich um pubertäres Imponiergehabe und Gruppenzwang, systematisches Mobbing und Rache unter etlichen jungen Stockachern dreht.

Die Folgen des wilden Monats: Zwei inzwischen 16-Jährige, ein 18-Jähriger und ein 20-Jähriger sind wegen teils heftiger Straftaten angeklagt. Die Vorwürfe lauten räuberische Erpressung, gefährliche Körperverletzung, Nötigung und Raub. Nicht alle davon bestätigen sich in der siebenstündigen Verhandlung. Und doch offenbaren sie, wie brutal einige Stockacher Jugendliche zueinander sind.

Bedrohung mit Messer, Körperverletzung mit Zange

Vorgeworfen wurden den vier Jugendlichen zwei verschiedene Sachverhalte. Zum einen sollen die vier, die keinerlei Vorstrafen haben, gemeinsam im Mai 2022 auf der Treppe, die von der Dillstraße in die Oberstadt führt, einem anderen Jungen aufgelauert und diesen mit einem Messer und einer Zange bedroht haben. Er sollte einen Freund, mit dem die vier eine offene Rechnung hatten, in die Dillstraße locken. Andernfalls würden sie ihm die Zähne ziehen, drohten sie.

Als dessen 18-jähriger Freund in Begleitung seiner Freundin schließlich auftauchte, sollen die vier Angeklagten ihn ebenfalls bedroht, ins Gesicht geschlagen sowie mit einer Zange an der Brust und im Genitalbereich verletzt haben. Der 18-jährige Angeklagte soll der Freundin des Opfers zudem eine Bauchtasche entrissen und gestohlen haben, die ihrem Freund gehörte.

Bewaffnete Gruppe erpresst 125 Euro von 19-Jährigem

Zum anderen warf die Staatsanwaltschaft dem 20-Jährigen eine zweite Tat vor. So soll er nur wenige Tage später am Bahnhof Radolfzell gemeinsam mit Freunden einen 19-jährigen Stockacher mit einem Messer bedroht und dazu gezwungen haben, ihm 125 Euro zu geben. Angeklagt war er daher zusätzlich wegen räuberischer Erpressung – im Erwachsenenstrafrecht hätten mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe gedroht.

Die Angeklagten zeigten sich vor Gericht weitgehend geständig und kooperativ. Die Bedrohung und Nötigung des ersten Opfers, das nicht vor Gericht erschien, räumten sie vollständig ein. Auch die Schläge mit der flachen Hand gegen Kopf und Brust des zweiten, 18-jährigen Geschädigten gaben sie schnell zu. Allerdings hätten sie an dem Tag nur reden wollen, dann sei alles plötzlich eskaliert.

Lediglich den Zangenangriff auf den Intimbereich, den der Geschädigte – laut Richterin Willenberg selbst „kein Waisenknabe“ und nur unter Bewährungsauflagen frei – in seiner Aussage als „Haupttat“ bezeichnete, leugneten sie. So sagte einer der beiden 16-jährigen Angeklagten, er habe die Zange nur zufällig wegen einer Fahrradreparatur bei sich gehabt und das Opfer damit lediglich am Oberschenkel gepackt.

Früherer Überfall einer Mädchengang als Motiv

Der brutale Überfall hatte einen Hintergrund: So sei eine Freundin der vier immer wieder von einigen Mädchen in Stockach gemobbt worden. Am Anfang des wilden Mai 2022 hätten diese das Mädchen sogar brutal zusammengeschlagen. Inzwischen verurteile Haupttäterin damals: Die 15-jährige Freundin des in die Dillstraße gelockten Hauptopfers.

Die vier jungen Männer, die vor Gericht sichtbar Reue, Scham und Einsicht zeigten, sagten aus, sie hätten das Mädchen für ihr Fehlverhalten zur Rede stellen und sich rächen wollen. Doch ein Mädchen zu schlagen, sei nicht in Frage gekommen. Daher habe man stattdessen ihren Freund in die Dillstraße bestellt.

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Nicht entscheidend beteiligt war der 18-jährige Angeklagte, wie der Geschädigte vor Gericht klarstellte. Er entpuppte sich eher als Mitläufer – obwohl er während des Angriffs die Schuhe des Opfers mit einem Messer zerstörte. Allerdings habe er dies nur auf Drängen des 20-jährigen Angeklagten getan. Das Messer stammte von jemandem aus der umher stehenden Menge weiterer 15 bis 20 Jugendlicher, die nicht weiter eingriffen.

Zudem kümmerte sich der 18-Jährige nach der Tat um das Opfer und nahm dessen Tasche nur aus Panik wegen der eintreffenden Polizei mit.

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Erpressungsopfer zitternd und panisch vor Gericht

Den zweiten Tatvorwurf zur räuberischen Erpressung in Radolfzell leugnete der 20-jährige Angeklagte vollständig. Er sei nur zufällig am Bahnhof gewesen. Eine enge Verbindung zur ersten Tat gab es dennoch – und zwar zu einem der 16-jährigen Angeklagten.

Der 19-jährige Geschädigte sagte aus, bereits mehrfach von einer Gang in Stockach um Schutzgeld in Höhe von mehreren Hundert Euro erpresst worden zu sein. Es habe zudem ein Video unter vielen Jugendlichen kursiert, in dem er verprügelt wurde, schilderte der laut eigener Aussage psychisch traumatisierte Jugendliche sichtbar zitternd vor Gericht. Sein Schicksal rührte Richterin Willenberg zu Tränen.

Belastet wurde der 20-jährige Angeklagte aber nur anhand von Snapchat-Nachrichten. Doch es handelte sich um einen Fake-Account, wie vor Gericht klar wurde. Stattdessen wurden zwei Namen der tatsächlichen Erpresser bekannt. Einer von ihnen ist der Bruder von einem der 16-jährigen Angeklagten.

„Das waren alles keine Kavaliersdelikte“

Die Staatsanwaltschaft sah daher am Ende die Vorwürfe der räuberischen Erpressung gegen den 20-Jährigen und des Raubes gegen den 18-Jährigen als nicht erwiesen an. Sie forderte lediglich eine Verwarnung aller vier wegen Nötigung und gefährlicher Körperverletzung nach Jugendstrafrecht.

Für den 20-Jährigen forderte sie zwei Monatsgehälter, also 1500 Euro, als Auflage, für den 18-Jährigen 50 Arbeitsstunden sowie für einen der 16-Jährigen 1000 Euro und für den anderen 60 Stunden.

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Richterin Heike Willenberg verurteile den 20-Jährigen zu 900 Euro an das Hospiz Konstanz und einem sozialen Trainingskurs, den 18-Jährigen zu 50 Stunden und einem Kompetenztraining. Die beiden 16-Jährigen erhielten als Auflagen eine Zahlung von 500 Euro an den Weißen Ring und einen Anti-Aggressions-Kurs, beziehungsweise 60 Arbeitsstunden und einen sozialen Trainingskurs.

„Das waren alles keine Kavaliersdelikte“, sagte Willenberg. Die Jugendlichen kämen dennoch mit der geringsten Strafe davon, da sie seither nicht mehr auffällig wurden und auf einem guten Weg seien. „Aber jetzt darf gar nichts mehr passieren. Ansonsten sprechen wir von schädlichen Neigungen und dann folgen sehr harte Strafen“, gab sie ihnen mit auf den Weg.