Auf der Anklagebank des Radolfzeller Amtsgericht saß jüngst ein bislang unbescholtener Mann, der vor 16 Jahren nach Deutschland floh und sich hier ein gutes Leben aufgebaut hatte. Doch nun steht er womöglich vor dem Nichts. Seit 2007 lebte der 40-Jährige friedlich und straffrei in Konstanz und Radolfzell. Die meiste Zeit davon arbeitete er, seit 2010 war er nicht mehr von staatlichen Leistungen abhängig. Eine Aufenthaltserlaubnis nach dem sogenannten Chancen-Aufenthaltsrecht stand kurz bevor. Doch seine erste Straftat könnte den 40-Jährigen nun seine sichere Zukunft in Deutschland kosten, möglicherweise muss er das Land sogar verlassen.
Denn der Mann war wegen Beleidigung, Körperverletzung und – das sollte entscheidend sein – eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte angeklagt. An einem Juliabend im Sommer 2022, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, war er mit dem Lokführer eines Zuges in Streit geraten. Der genaue Anlass wurde in der Verhandlung nicht bekannt. Als der Lokführer ihn in der Folge des Zuges verweisen wollte, habe der Angeklagte diesen unter anderem als Arschloch, Nazi und faule Sau beleidigt und anschließend geschubst haben.
Eine zufällig anwesende Polizistin, die ihn zum Verlassen des Zuges aufforderte, soll er danach ebenfalls beleidigt und geschubst haben. Verletzungen erlitten die Geschädigten dadurch nicht, eine Straftat ist es dennoch.
Angeklagter räumt Taten vollständig ein und zeigt Reue
Vor Gericht räumte der 40-Jährige die Taten vollumfänglich ein, er zeigte für alle Anwesenden glaubhaft Reue und Einsicht und entschuldigte sich mehrfach. In Absprache mit seinem Verteidiger beschränkte er den Einspruch gegen den Strafbefehl über 100 Tagessätze zu je 15 Euro daher lediglich auf die Rechtsfolgen, also Anzahl und Höhe der Tagessätze.
Denn die sind für den 40-Jährigen entscheidend. Seit 2007 lebt der Mann in Deutschland, wie er vor Gericht erklärte. Eine Aufenthaltserlaubnis habe er nicht, dafür aber zumindest bis Januar 2024 noch eine Duldung gehabt. Doch nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht hoffte er, dauerhaft hier leben zu dürfen. Das Recht sieht vor, dass Menschen, die fünf Jahre in Deutschland leben, unter gewissen Umständen eine Aufenthaltserlaubnis erlangen können.
Das Verwaltungsverfahren lief noch. Und die Chancen standen gut. In seinen 16 Jahren in Deutschland hatte er sich nichts zu Schulden kommen lassen, Einträge im Bundeszentralregister hat er keine, wie vor Gericht klar wurde. Zudem war der Mann, der seine vier Kinder in der Heimat mit monatlich 700 Euro Unterhalt unterstützt, seit 2010 durchgehend beschäftigt. Sozialleistungen nimmt er laut eigenen Aussagen nicht in Anspruch.
Droht dem Mann nun die Abschiebung?
Doch nun könnte ihm der Vorfall im Juli zum Verhängnis werden. Zum einen hat der Mann durch das laufende Verfahren bereits seinen Job in der Montage bei einer Singener Firma verloren. Zum anderen greift das Chancen-Aufenthaltsrecht bei Menschen, die zu einer Strafe mit über 50 Tagessätzen verurteilt werden, nicht mehr. Und die Mindeststrafe für einen tätlichen Angriff auf Polizeibeamte liegt bei 90 Tagessätzen. Sein Verteidiger plädierte zwar darauf, die enormen ausländerrechtlichen Folgen für den bislang tadellosen Mann im Urteil zu berücksichtigen und forderte nur 50 Tagessätze.
Richterin Ulrike Steiner folgte jedoch der Staatsanwaltschaft, die wegen „erheblicher Taten“ eine „deutliche Geldstrafe“ für nötig empfand, und reduzierte die Strafe lediglich auf die vorgesehene Mindeststrafe von 90 Tagessätzen. Eine Möglichkeit, den Strafrahmen nach unten zu verschieben, habe es nicht gegeben, da der 40-Jährige weder krank oder vermindert schuldfähig gewesen sei, so Steiner. „Das vorgegebene Mindestmaß war hier das Problem“, sagte die Richterin, die durchaus Mitgefühl für die Situation des Angeklagten zeigte.
Sie stellte aber auch klar, dass die 90 Tagessätze bereits milde seien, da der 40-Jährige, auch gegen zwei weitere Gesetze verstoßen und heftige Beleidigungen ausgesprochen hatte. Dieser war vom Urteil sichtlich erschüttert. Sollte es nun rechtskräftig werden, steht die weitere Zukunft des Mannes in Deutschland in den Sternen. Im besten Fall wird er in den Status der Duldung zurückfallen, der eigentlich im Januar abgelaufen war. Möglicherweise droht ihm aber auch die Ausweisung.