Das Nellenburg-Gymnasium ist eine von 44 Modellschulen, die bereits seit dem Schuljahr 2012/13 neun Jahre bis zum Abitur anbietet, also G9 statt das seit 2004/05 geltende G8. Diesen Weg schlägt das Bildungsministerium nun für ganz Baden-Württemberg ein: Ab dem kommenden Schuljahr wird das neue neunjährige Gymnasium (G9) ab den Klassen 5 und 6 die Regelform sein. Dabei handelt es sich jedoch inhaltlich nicht um eine Rückkehr zur früheren Form des G9, denn es gibt einige Veränderungen. Und dadurch wird sich auch in Stockach einiges ändern. Was sagt Holger Seitz, Schulleiter des Nellenburg-Gymnasiums (NBG) Stockach, dazu?
G9-Einführung hat gegenteiligen Effekt in Stockach
Für das Land sei das neue G9 grundsätzlich der richtige Weg, sagt Holger Seitz. Denn gegenüber dem G8 werden die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch gestärkt. Für seine G9-Schule bedeute die neue Stundentafel allerdings eine Reduzierung der Stunden in diesen Fächern. „Wir haben gute Abiturergebnisse durch die Stärkung dieser Kernfächer gehabt. Daher wird auch weiterhin der Schwerpunkt durch Einsatz von Poolstunden auf dieser Förderung liegen. Das ist grundlegend und in Anbetracht der Pisa-Ergebnisse absolut notwendig“, so Seitz. Mit Poolstunden können Schulen eigene Schwerpunkte setzen.

Das Fach Informatik für alle Schüler findet der Schulleiter gut. Das gab es bisher eher im Naturwissenschaft-und-Technik-Profil. Doch Seitz sieht ein Problem: „Die Schulen haben wenige Informatiklehrer. Fachpersonal für höhere Klassen ist einfach nicht vorhanden.“
Ein ähnliches Problem sieht er in anderen Bereichen: Das Fach Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung wird am NBG bereits gekoppelt mit Gemeinschaftskunde in den Klassen 8 bis 10 unterrichtet. Die Stärkung im neuen G9 hält Seitz für sinnvoll. Für den Fokus auf Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in Klasse 7 und Demokratiebildung in Klasse 11 gebe es aber noch keine Lehrpläne.
Hier liegt Konfliktpotenzial
Doch die neue Stundentafel bietet auch Konfliktpotenzial. Seitz betont, die Verteilung der weiteren Poolstunden sorge für Unruhe, denn jede Fachschaft habe einen guten Grund, eine zusätzliche Stunde für ihren Bereich zu reklamieren. Das bedeute zusätzliche Konferenzen und Zeit für diese Strukturarbeit.
Dabei sieht der Schulleiter an anderer Stelle dringenden Handlungsbedarf: Die Kluft zwischen Lehrkräften und Schülern dürfe nicht weiter auseinandergehen. „Wir müssen Konzepte für die Mittelstufe entwickeln, um keine Kinder zu verlieren. Da geht es auch darum, wie wir mit der Interaktion der Kinder untereinander im sprachlichen Bereich, zum Beispiel bei WhatsApp, umgehen.“ Das analoge Zusammensein müsse wichtig bleiben, fordert der Schulleiter. Daran hingen auch Regelungen des Handygebrauchs an der Schule.
Schulleiter Seitz übt auch Kritik
Absolut schlecht am neuen G9 sei, dass experimentelles Arbeiten in den Klassen 5 und 6 durch die Abschaffung des Faches BNT (Fächerverbund Biologie, Naturphänomene, Technik) nicht mehr in dem sinnvollen Maße wie bisher möglich ist. Seitz macht klar: „Man kann nicht von einer Stärkung der Mint-Fächer sprechen, wenn man den Start kappt. Wir am NBG stärken die Naturwissenschaften weiterhin in der Unter- und Oberstufe.“
Dank einer Poolstunde in Biologie werde man das experimentelle Arbeiten mit geteilten Klassen in den Stufen 5 und 6 weiterführen. Das Experimentalfach sei bei vielen das Lieblingsfach und einige engagierten sich deshalb in den höheren Klassen bei „Jugend forscht“. Die jeweils andere Klassenhälfte hat zeitgleich Medienbildung. Dabei nutzt ein Schüler einen PC, nicht wie vom Kultusministerium als ausreichend angesehen zwei Schüler.
Ganztagsangebot könnte für Probleme sorgen
Der Stockacher Schulleiter glaubt zudem, dass bisherige G8-Schulen mit der Umstellung ein Problem mit dem Ganztagsangebot bekommen. In Klasse 5 und 6 entfällt der Nachmittagsunterricht und es gibt kein Geld für zusätzliche Angebote. Damit sei auch die offene Ganztagsschule mit Arbeitsgemeinschaften ohne Teilnahmepflicht am Nachmittag stark gefährdet. Die Schüler sind mehr zuhause.
Holger Seitz fragt sich besorgt, wie diese Zeit genutzt wird und ob sich die Bildschirmzeit erhöht. Er sagt: „Die sozialen Medien nehmen schon jetzt einen großen Raum ein – ob das freiwillige AG-Angebot nachmittags ebenso attraktiv ist?“ Er befürchte auch, dass dieses Angebot nicht mehr so umfangreich wie bisher möglich sein wird. Denn Lehrer und Geld sind knapp.
Der Schulleiter formuliert die große Herausforderung: „Wir wollen und werden die guten Inhalte, die wir an ‚unserem‘ G9 erlebt haben, mit den Bedingungen des neuen G9 weiterführen.“
Dann nennt er noch einen Aspekt, der grundsätzlich für das neunjährige Gymnasium spricht: Die Schüler seien beim Abitur ein Jahr älter. Sie meisterten die mündlichen Prüfungen souveräner, die Ergebnisse seien besser. „Durch das eine Jahr, das entwicklungspsychologisch eher anderthalb Jahren entspricht, sind die Schüler reifer und vernetzter im Kopf. Das ist indirekt auch das Ergebnis von G9 und ein guter Grund, es wieder einzuführen.“