Michael Oswald hat sein Leben lang mit einer Last gelebt, die er nun für etwas Gutes nutzen will. Sein Vater war im Zweiten Weltkrieg ein Mitglied der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS) und als Wachmann in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald beschäftigt. Sein Leben lang habe ihn die Frage umgetrieben, wie es sein konnte, dass sich sein bereits 1945 verstorbener Vater freiwillig zur SS gemeldet hat – also der Mann, den seine Mutter immer als zärtlichen und liebevollen Menschen beschrieben habe. Er wurde offenbar so radikalisiert, dass er als KZ-Wächter am Massenmord an unschuldigen Menschen beteiligt war.

Mit seiner Lebensgeschichte will der 80-Jährige jetzt vor Extremismus warnen, denn er sieht die Demokratie in Gefahr. „Mir bleibt nicht mehr viel Zeit“, sagt Oswald mit einem Verweis auf sein Alter: „Deshalb habe ich mich jetzt entschlossen, mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, und möchte am liebsten mit Jugendlichen ins Gespräch kommen, um ihr Bewusstsein für die Demokratie zu stärken“, sagt Oswald.

Wie kann jemand so grausam sein?

„Über die Gründe, die er hatte, kann ich nur Vermutungen anstellen“, sagt Michael Oswald über seinen Vater. Um die Geschichte aufzuarbeiten, habe Oswald Kontakt zu den Historikern der Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald aufgenommen. Dort wurde ihm erklärt: „Viele der Wachleute haben sich für den Dienst im KZ deshalb entschieden, weil es für sie persönlich sicherer war als an die Front zu gehen. Bei meinem Vater mag ein zusätzlicher Anreiz die Einstellung in ein Beamtenverhältnis gewesen sein, denn von Haus aus war er eigentlich Handwerker.“

Das könnte Sie auch interessieren

Ein Psychologe habe ihm später erklärt, wie einfach es sein könne, einen Menschen in solche Bahnen zu lenken – mit Drill, psychologischem Druck, und indem man ihm bestimmte Dinge immer und immer wieder einredet.

Der Blick in die Nachrichten macht Sorgen

Sorgenvoll blickt Michael Oswald deshalb heute auf die Nachrichten, wenn junge Menschen auf Sylt und andernorts rechtsradikale Parolen zu Partymusik grölen oder bei Geheimtreffen laut über eine Remigration gesprochen wird. „Früher gab es in Europa alle paar Jahre Krieg. Wir leben nun schon seit mehr als 75 Jahren im Frieden“, sagt Oswald.

Vor dem Hintergrund der eigenen Lebensgeschichte will er wachrütteln. „Als wir in meiner Jugend einmal im Elsass zelten gehen wollten, war das kaum möglich. Als Deutsche wurden wir dort nicht gut aufgenommen. Zu sehen, dass die jungen Menschen heute frei durch Europa reisen können und als Europäer wahrgenommen werden, ist großartig“, sagt der 80-jährige.

Die Partei ist weg, die Gesinnung nicht

Dass es heute politische Kräfte gibt, die diese Errungenschaften seiner Meinung nach wieder infrage stellen, und bei denen er Parallelen zur Vergangenheit erkennt, ärgert ihn. Und er macht sich mit Blick auf die Geschichte große Sorgen. „1928 lag die NSDAP [die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, angeführt von Adolf Hitler, Anm. d. Red.) bei 2,6 Prozent der Wählerstimmen. 1933 waren sie schon an der Regierung“, so Oswald.

Er fürchtet, dass sich die Geschichte heute wiederholen könnte. „Denn der Name der Partei ist zwar verschwunden, aber mir scheint, die Gesinnung ist noch sehr lebendig“, sagt Oswald. Da würde beispielsweise oftmals mit einfachen und verkürzten Behauptungen Wahlkampf betrieben, beobachtet Oswald. „Ich mache mir Sorgen, dass gerade junge Menschen das aufnehmen und glauben“, sagt er.

Das könnte Sie auch interessieren

Weil er seine Erfahrungen als Zeitzeuge weitergeben möchte, hat Oswald Kontakt zur Stadtjugendpflege aufgenommen. Das bestätigt Stadtjugendpfleger Frank Dei. „Es war von Beginn an geplant, dass ein erster Einsatz im Rahmen einer Klassenveranstaltung am Schulverbund stattfindet“, so Dei. Wie Oswald berichtet, gebe es schon einen Termin für ein Vorgespräch mit einem Lehrer.

Erfahrungsberichte sind wichtig

Grundsätzlich halte es Dei für sehr wertvoll, Menschen einzubeziehen, die über eigenes Erleben berichten können. „Diese Vorgehensweise setzen wir in der Jugendarbeit auch in Bereichen der Sucht- und Gewaltprävention ein. Selbstverständlich gilt das auch für Zeitzeugen, die die NS-/Kriegszeit erlebt haben“, sagt Dei und fügt hinzu: „Die direkte Kommunikation mit Zeitzeugen macht diese Jahre für Jugendliche greifbarer als es noch so gute Literatur vermag.“

Das könnte Sie auch interessieren

Michael Oswald hofft, dass das Projekt bald zustande kommt, solange er seine Geschichte noch selbst erzählen kann. Er selbst habe sein Leben lang mit Schuldgefühlen und Angststörungen gelebt.

„Ich weiß, dass ich nicht schuldig bin. Trotzdem wollte ich durch mein Leben eine Art Gegenleistung erbringen“, sagt Oswald. Er berichtet etwa davon, dass er als Buchhalter im Ruhestand bis heute Migranten in Deutsch und Mathematik unterrichte, dass er sich in verschiedenen Vereinsvorständen engagiert habe und Mitbegründer sowie Mitarbeiter in Studentenvertretungen war.

Eindringlicher Appell an die Jugend

Besonders für die Erst- und Jungwähler hat er in diesen Zeiten eine eindringliche Botschaft: „Ich wünsche mir, dass sich die jungen Menschen gut informieren und die Aussagen, die von Rechtspopulisten gemacht werden, prüfen. Beispielsweise durch einen Vergleich der Parteien im Wahl-O-Mat. Besonders hoffe ich, dass bei den nächsten Wahlen die Zugehörigkeit zu Europa weiter gefestigt wird und die Wahlbeteiligung sehr hoch ist.“

Außerdem wolle er die jungen Menschen bitten, sich Gedanken darüber zu machen, was die Forderung „Ausländer raus, Deutschland den Deutschen„ bedeuten würde: „Wo, wann und wie wir geboren werden, ist Zufall. Dass wir hier leben dürfen“, sagt Oswald.