Im Leben geht es auch darum, Verantwortung zu übernehmen und für Dinge einzutreten, die in unserer Gesellschaft wichtig sind. 18 Realschüler vom Schulverbund Nellenburg hatten die Gelegenheit, von einem Zeitzeugen zu lernen. Der 80 Jahre alte Michael Oswald sprach über sein Leben und seine Zeit als Flüchtling. Außerdem erzählte er, wie das Wirken seines Vaters als KZ-Wachmann sein Leben überschattet hat. Die 15-jährigen Schüler folgten den Ausführungen sehr aufmerksam.
Michael Oswald, Vater von zwei Söhnen, nahm die Jugendlichen mit auf seine Lebensreise. Er skizzierte seine ersten 15 Lebensjahre und griff Fragen auf, die die Schüler vorab gestellt hatten: Er kam im Februar 1944 im 3000-Seelen-Dorf Deronje, das heute in Serbien liegt, zur Welt.
Flucht mit Mutter und den Schwestern
1944 floh seine Mutter mit ihm und den vier älteren Schwestern vor Titos Soldaten nach Dresden. Die Bombardierung der Stadt sorgte dafür, dass er sein Leben lang Angst vor Bomben- und Raketenlärm hatte. 1946 gelangten sie über Schlepper in ein Auffanglager in der Oberpfalz. Von dort wurden die Flüchtlinge auf Einsiedlerhöfe verteilt.
Erste eigene Erinnerungen hat er ab 1949. Er sei klein, schwächlich, sensibel und kränklich gewesen, doch durch den Bauernhof habe die Familie genug zu essen gehabt. Er berichtete von Prügeln in der Schule und einer Tuberkulose-Erkrankung mit langem Aufenthalt im Sanatorium. Als Flüchtling wurde er oft gehänselt, doch ein älterer Schüler beschützte ihn bald und wurde zum Freund.

Die Familie folgte Verwandten nach Dietenheim. Seine Schwestern arbeiteten in Privathaushalten, er kam eher zufällig zu einer Lehre im örtlichen Lebensmittelmarkt. Mit 21 Jahren wurde er Filialleiter in einem der ersten SB-Läden und mit 30 Jahren studierte er auf dem zweiten Bildungsweg Betriebswirtschaft.
Der Vater war KZ-Wachmann in Auschwitz
Nach diesem Punkt kamen die Schüler zur wohl elementarsten Frage: Sie wollten wissen, wie der Rentner damit umgeht, dass sein Vater mit seiner Arbeit als SS-Mann gegen jegliche Moralvorstellung verstoßen hat. Oswald sagte: „Ich habe lange gebraucht, darüber zu reden, dass mein Vater KZ-Wachmann war und welche Tätigkeiten er ausgeübt hat. Ich habe meine Mutter oft gefragt, wo mein Vater ist, was er gemacht hat. Sie hat gesagt, er sei liebevoll zu seiner Familie gewesen.“
Damals seien alle wehrfähigen Männer erfasst worden. Sein Vater habe sich als Einziger aus der Gegend nach Auschwitz anheuern lassen. „Ich verstehe heute noch nicht, warum. Das konnte mir keiner erklären.“ Jedes Vierteljahr seien die Wachmänner gefragt worden, ob sie den Dienst weitermachen.
„Hätte er das nicht getan, wäre er wohl an die Front gekommen. Blieb er aus Feigheit? War er also ein Mörder und feige?“, fragte Oswald. Die Vorstellung, was der Vater getan habe, sei furchtbar, doch er könne ihn nicht hassen, weil er ihn nicht gekannt habe. „Ich spüre nur Verachtung für ihn. Wie kann man als Familienvater so einen Hass haben?“
Nach dem Krieg hätten alle abgestritten, Nazis gewesen zu sein. Die Menschen hätten nur ungefähr gewusst, was im Krieg passiert war. Dabei ging es um sechs Millionen ermordete Juden. Michael Oswald sagte bitter: „Überall war irgendeiner verschwunden, im Konzentrationslager umgebracht – und alle wussten nichts. Keiner.“
Aufklärung der Jugend ist ihm wichtig
Er fühle sich verpflichtet, die Jugendlichen aufzuklären, weil er nicht wolle, dass sie das mitmachen müssen, was er erlebt habe. „1927 war der Anteil der Nazis ganz gering, so wie bei der NPD.“ Heute lese er, wie stark die AfD und andere rechte Parteien geworden sind. Das mache ihm Angst, so der Rentner. Er nannte Gewalt gegenüber Migranten oder sexuell anders orientierten Menschen und Morde an Menschen aus anderen Ländern besorgniserregend.
„Wann ist man deutsch? Wenn man einen deutschen Pass hat? Oder wenn man in der AfD ist?“, fragte er und erinnerte sich an seinen Flüchtlingsausweis, der ihn zum Deutschen zweiter oder gar dritter Klasse gemacht hatte. „Wenn heute Sprüche kommen, wie ‚Deutschland den Deutschen‘ ist es für mich eine Wiederholung der Geschichte, die damals anfing.“
Schüler danken für diese Offenheit
Michael Oswald betonte den Wert der Meinungsfreiheit in einer Demokratie. „Wir dürfen hier alles sagen, sofern wir nicht gegen Gesetze verstoßen.“ Die im Grundgesetz verankerte unantastbare Würde des Menschen, Nächstenliebe, Achtsamkeit, gegenseitige Rücksichtnahme und Freiheit seien hohe Güter. Er richtete sich an die Schüler: „Wollt ihr eure Freiheit aufgeben? Einem Rattenfänger hinterherlaufen?“
Die große Zahl der Migranten stelle natürlich eine Herausforderung dar. Die meisten wollten hier tatsächlich arbeiten und in Freiheit und Würde leben, so Oswald. Zu seiner Zeit als Flüchtling sei das Land ziemlich zerstört gewesen. Die Jugendlichen profitierten heute noch von den Arbeiten, die damals von seiner Generation geleistet wurden. Am Ende applaudierten die Schüler nachdenklich. Einige dankten dem Referenten persönlich für seine Offenheit.