Friedensbewegung, Atomkraftgegner und Nato-Doppelbeschluss: Die 1980er Jahre waren eine Zeit der Proteste. Es war ein aufgeheiztes Jahrzehnt. Ausgerechnet in diesem Umfeld sollte 1983 eine Volkszählung stattfinden. Doch die geplante Datenerhebung musste um vier Jahre verschoben werden. Gegner hatten eine Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Anders als bei früheren Volkszählungen, wollten die Kläger ihre persönlichen Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht mehr offen preisgeben. Die Klage hatte Erfolg. Das oberste Gericht sprach den Bürgern das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu.
Einer der sich noch sehr gut an dieses Situation erinnert, ist Torsten Kalb. Er war damals Student der Rechtswissenschaften in Göttingen und erlebte hautnah, wie einer der Kommilitonen die Vorlesung stürmte und das Urteil verkündete. Er hatte die Verfassungsklage mitinitiiert. „In den Städten wie Berlin oder Göttingen gingen die Studenten auf die Straße“, erinnert sich der heutige Leiter des Fachbereichs für Recht und Ordnung bei der Stadtverwaltung Singen.
„Das war die Geburtsstunde des Datenschutzes“, sagt auch Hans-Peter Lehmann. Er war damals alles andere als auf Revolte gestimmt. Sein Berufsziel war von Anfang an Bürgermeister, was ihm dann ja auch in Mühlhausen-Ehingen gelang. Doch 1987 war er gerade ein paar Monate im Tengener Rathaus als Hauptamtsleiter tätig, als ihn der damalige Bürgermeister Helmut Groß mit der Aufgabe betraute, die Volkszählung zu leiten. Lehmann sah die Karrierechance, die ihm der Zensus bot. Als junger Verwaltungsfachmann wusste er aber auch, dass ihm da kein Bürger durch die Lappen gehen durfte. „Es ging immerhin um viel Geld“, erinnert er sich heute. „Im Finanzausgleich war jeder Einwohner rund 1000 D-Mark wert. Es war also wichtig, jeden zu erfassen, weil sich das direkt auf den städtischen Haushalt ausgewirkt hat.“
Lehmann hatte die Proteste von 1983 noch allzu gut in Erinnerung. Und das höchstrichterliche Urteil auch. Danach waren die Daten der Bürger zu schützen. In der Urteilsbegründung hatte das Gericht das Recht jeden Bürgers verankert, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten selbst zu bestimmen. Die Volkszählung selbst war damit zwar nicht in Frage gestellt. Die Umsetzung fand aber unter neuen Regeln statt.
Für die Volkszähler vor Ort brachte die neue rechtliche Lage einige Erschwernisse mit sich. Es mussten Sonderbehörden eingerichtet werden, die räumlich, personell und organisatorisch von den Verwaltungsämtern getrennt werden sollten. In bevölkerungsarmen Gegenden war das kaum möglich. „Für die Erhebungsstelle mussten wir einen Raum außerhalb des Rathauses mit eigener Postanschrift einrichten“, erinnert sich Hans-Peter Lehmann. „Tengen hatte damals 4000 Einwohner mit neun Stadtteilen und Ortsvorstehern.“
In den Städten und Studentenhochburgen hatte sich auch 1987 der Widerstand noch nicht gelegt. Doch in Tengen mit seiner ländlichen Struktur hatte Lehmann eher ein leichtes Spiel. „Die rund 20 Helfer hatte ich schnell zusammen“, erzählt er. „Da konnte ich mich auf die Ortsvorsteher verlassen. Und in den Dörfern gab es auch weniger Bedenken wegen der Befragung.“ Möglicherweise vertrauten die Menschen dem neuen Volkszählungsgesetz etwas mehr. Das verlangte jetzt, Namen und Anschriften so früh wie möglich von den anderen Daten zu trennen, um größtmögliche Anonymität zu erzielen. Neu gegenüber früheren Zählungen war auch, dass die Befragten die Bögen alleine, ohne Anwesenheit des Zählers, ausfüllen durften.
„Wir mussten sicherstellen, dass jeder Bürger an der Befragung teilnahm. Weil die Rückläufe anonym waren, mussten die Bögen später plausibilisiert werden“, erinnert sich Lehmann. „Es waren ja keine direkten Rückschlüsse möglich.“ Die Helfer waren ausgestattet mit Zählerausweis, Mappe, schwarz-rot-goldene Bleistift und Kuverts. Und sie bekamen eine kleine Aufwandsentschädigung. Die Bundesregierung warb mit dem Slogan „Zehn Minuten, die allen helfen“. Die Gegner konterten: „Unsere Daten müsst ihr raten.“
Der Tengener Bürgermeister war sehr zufrieden mit dem Ergebnis der Volkszählung. „Am Ende hatten wir 15 Einwohner mehr als zuvor gemeldet waren“, sagt Hans-Peter Lehmann. Das waren aus dem Finanzausgleich 15 000 D-Mark mehr in der Stadtkasse. Andere Gemeinde mit vielen Zweitwohnungen hatten Einwohner auf der Liste, die es gar nicht gab. Plötzlich fehlten nicht nur 200 oder 300 Einwohner, sondern auch 200 000 oder 300 000 D-Mark in der Gemeindekasse.
Die Volkszählung 1987 war übrigens die letzte Vollerhebung in der alten Bundesrepublik. Wer sich verweigerte musste mit Bußen bis hin zu einem Verwaltungszwangsverfahren rechnen. „Wir hatten keine fünf Zwangsverfahren in Tengen“, freut sich Lehmann noch heute über den reibungslosen Ablauf, der ihn damals auf der Karriereleiter eine Sprosse höher gebracht hat.