Der Krieg in der Ukraine tobt mit unverminderter Härte. In der Nacht auf Montag überzog der russische Gewaltherrscher Putin das Nachbarland mit hunderten Drohnen und Raketen. Die Luftverteidigung konnte nur einen Teil der Geschosse vom Himmel holen, weil US-Präsident Trump ihnen die Unterstützung bei der Luftaufklärung entzogen hatte. Diese Angriffswelle erlebte der grüne Bundestagsabgeordnete Johannes Kretschmann, der sich in der Hafenstadt Odessa aufhielt. Im SÜDKURIER-Gespräch schildert der 46-Jährige, der seit Januar für Bündnis90/Die Grünen als Nachrücker im Bundestag sitzt, seine Erlebnisse.
Mit dem Flieger zunächst nach Moldawien
Unvorbereitet ist Johannes Kretschmann nicht ins Krisengebiet gereist, sondern hat sich bei Bundestagskollegen, die schon in der Ukraine waren, nach den Umständen erkundigt. Die Sicherheitslage ist im gesamten Land angespannt, weil russische Raketen und Drohnen im Prinzip überall einschlagen können.
Aber Flächenbombardements, mit denen ganze Städte angegriffen werden, gab es während des dreijährigen Krieges noch nicht. Vom Himmel droht immer Gefahr, im Prinzip aber nur punktuell. Kretschmann machte seine Reisepläne nicht öffentlich, sondern buchte zur Tarnung am vergangenen Samstag zunächst einen Flug von Stuttgart nach Chisinau, der Hauptstadt von Moldawien. Dort traf der Bundestagesabgeordnete dann Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGO), sprach mit Einwohnern und Journalisten. Zugute kamen dem einstigen Romanistikstudenten dabei seine Sprachkenntnisse.
Mit dem Kleinbus geht es in die ukrainische Stadt Odessa
Am Montag ging es dann mit einem Kleinbus weiter in die Ukraine, in die einstige Schwarzmeermetropole Odessa, wo er 24 Stunden blieb und nach eigenen Angaben sehr viele Gespräche führen konnte.

Vertreter von NGO betonten immer wieder, wie wichtig Vorortbesuche deutscher Entscheidungsträger sind, um sich ein realistisches Bild der Lage zu verschaffen. Angesichts des Kriegsverlaufs und der aktuellen politischen Entwicklungen, sprich den Verhandlungen zwischen Russland und den USA, malen die NGO düstere Szenarien für die Zukunft der Ukraine an die Wand. Zwar gebe es die Chance für einen Waffenstillstand, aber dieser könnte Ausgangspunkt für einen noch größeren Krieg sein und vor allem eine ungeahnte Massenflucht auslösen.
Grüne Politiker haben Ernst der Lage frühzeitig erkannt
„Die Hilfe kam zu spät und zu langsam“, ist sich Kretschmann mit seinen Gesprächspartnern einig, dass Europa nicht entschlossen auf den russischen Angriffskrieg reagiert hat. Dies sei ihm während des Besuchs in der Ukraine klar geworden. Dass die Bundesregierung die im vergangenen Jahr bewilligte Ukraine-Hilfe von drei Milliarden Euro immer noch zurückhalte, ist für den Abgeordneten deshalb völlig unverständlich.
Er vermutet, dass dies der Strategie von Kanzler Olaf Scholz geschuldet ist, der das eigentliche Kriegsziel, nämlich dass Putin nicht siegen darf, nie verfolgt hat. Dagegen haben grüne Politiker nach Angaben von Kretschmann den Ernst der Lage frühzeitig erkannt, mussten sich aber der Koalitionsräson beugen, und deshalb sei die deutsche Politik oftmals von Heuchelei geprägt worden. Für den Hilferuf vieler Menschen „Helft uns Ukrainern zu überleben“, sei es jetzt zu spät.
Viele Eindrücke aus den Gesprächen in Odessa
In Odessa suchte Kretschmann immer wieder das Gespräch mit Einwohnern. Er traf eine Frau, die nach Kriegsausbruch zunächst nach Italien geflohen und dann wieder zurück gekehrt ist, weil sie sich in Odessa sicher fühlt. Eine Frau, deren Eltern nach Spanien geflohen sind, harrt in der Hafenstadt aus Liebe zu ihrem Mann aus, der in die Armee eingezogen wurde. Im Gespräch mit Musikern, die er als weltoffen bezeichnet, wurde dem deutschen Besucher klar, dass Odessa historisch bedingt, eher Richtung Russland orientiert ist und viele Menschen dem ukrainischen Präsidenten Selensky so wenig trauen wie Wladimir Putin.
Deshalb fallen Korruptionsvorwürfe gegen die ukrainische Regierung, die wohl von Russland gesteuert werden, in Odessa auf fruchtbaren Boden. Das Leben in der einstigen Millionenmetropole ging auch nach dem nächtlichen Drohnenangriff weiter. „Die Menschen gehen arbeiten, erholen sich im Park oder sitzen in der Bar“, berichtet Kretschmann, dass man sich nach drei Jahren mit der Gefährdung arrangiert hat.
Gefahr durch Russland ist absolut bewusst geworden
Nach einem Tag in Odessa ging es zurück nach Moldau und von dort mit dem Flieger in die Heimat, wo Johannes Kretschmann am Mittwochabend landete. Auf die SÜDKURIER-Frage, welche Erkenntnisse ihm der Besuch in der Ukraine gebracht habe, antwortet der Noch-Parlamentarier, der am Donnerstag über die Schuldenbremse abstimmte, dass ihm die Gefahr durch Russland nun absolut bewusst wurde. „Das Baltikum oder Polen haben den Ernst der Lage schon lange verstanden“, fordert der Grünenpolitiker, dass Deutschland und Europa nun endlich „aufwachen“ müssen.
Netzwerk in Moldau erweitern
Auf die Frage nach seiner Zukunft, wenn in zwei Wochen sich der neue Bundestag konstituiert hat, sagt Johannes Kretschmann, dass während seiner Kurzfrist-Parlamentariertätigkeit beruflich viel Arbeit liegen geblieben sei. Und er will sein Netzwerk in Moldawien weiter ausbauen, denn dieses kleine Land sei ganz klar im Visier des russischen Gewaltherrschers. Dieses Thema habe er schon vor Jahren angesprochen, und viele hätten ihn deshalb ausgelacht: „Heute lacht niemand mehr.“