Etwa 600 Leute versammelten sich am Montagabend in der Oberen Hauptstraße in Rottweil. Sie bildeten, mit Plakaten und Schals als Abstandshalter, eine ovale Menschenkette. Hinzu kam eine ebenfalls angemeldete Aktion von Rössle-Treibern mit ihren Peitschen. Sie sorgten wie am vergangenen Montag für einen kräftigen und fasnetmäßigen Sound.
Dann waren da etwa 1300 sogenannte Spaziergänger, denen an diesem Abend der Zugang zur Oberen Hauptstraße verwehrt wurde. Die Polizei ließ nur rein, wer eine FFP2-Maske trug. Der Rest musste draußen bleiben. Und tat es auch: Man „spazierte“ oberhalb des Schwarzen Tores entlang, über den Münster- bis zum Friedrichsplatz. Wo sich die 1300 versammelten.
„Endlich mal wieder was los“
Auf beiden Seiten der Straße und manchmal auch mitten darauf, wurde gepfiffen, geklatscht, gejubelt. „Hier ist endlich mal wieder was los“, kommentierte eine Teilnehmerin das Geschehen. „Wir stehen für Demokratie, es kann doch nicht sein, dass man uns zum Impfen zwingt“, schimpft eine andere.
In der Oberen Hauptstraße war schon ab 17.30 Uhr viel los. Die etwa 600 Demonstranten hatten zahlreiche Plakate dabei, auf denen von „Maske auf, Nazis raus“ über „Ich bin ein Anhänger der Impfpfl/eins/icht“ auf einem Fahrradanhänger oder „impfen statt schimpfen“ bis zu „Neben Nazis ‚Freiheit‘ rufen?“ und „Euer Egoismus tötet Menschen“ vieles zu lesen war.
Erinnerungen an die 80er werden wach
Für die Menschenkette versammelten sich so viele Teilnehmer, dass es für eine äußere und eine innere Reihe, teils sogar drei davon reichte. Manch einer erinnerte sich dabei an die erste Menschenkette Deutschlands 1983, als man gegen die Stationierung der Pershing-Raketen auf die Straße ging.
„Corona ist kein Spaziergang.“Ralf Broß, Rottweiler Oberbürgermeister
Unter den Teilnehmern: Rottweils Oberbürgermeister Ralf Broß, der noch die Woche zuvor aus dem verdunkelten Rathaus-Erker zuschaute. Jetzt ging er auf die Straße, und fand die Aktion, initiiert von Stadträtin Elke Reichenbach (Forum für Rottweil) und Peter Bruker (Grüne), richtig gut. „Ich finde es toll, dass es diese Versammlung gibt, die angemeldet ist und die zeigt, dass Corona kein Spaziergang ist.“
Dass die Klepfer, Rottweiler Narren, die eigentlich im Rahmen der Menschenkette laut sein wollten, das so nicht durften, weil dort eine Peitsche als unzulässige Waffe eingestuft wurde, fand der Oberbürgermeister nicht so toll. „Aus meiner Sicht ist in Rottweil eine Peitsche keine Waffe.“ Aber es gab ja eine Lösung, die Klepfer meldeten eine eigene Veranstaltung an, und die fiel hier unter das kulturelle Erbe der alten Reichsstadt und wurde demnach auch genehmigt. Ganz im Sinne des Stadtoberhaupts.

Es wurde am Schwarzen Tor geklepft, also mit der Peitsche geknallt, der Rest der Oberen Hauptstraße gehörte der Menschenkette, zu der sich auch die Fraktionen des Stadtrats – außer der AfD – und der Kreis- und Stadtjugendring bekannten.
Ein Schlag ins Gesicht
„Mit großer Sorge haben wir in den vergangenen Wochen die montäglichen ‚Corona-Spaziergänge‘ beobachtet.“ Das habe nichts mit sachlicher Kritik zu tun „und ist für Menschen, die an Covid-19 erkrankt oder gestorben sind, Angehörige verloren haben oder in der Pflege seit Monaten am Limit und darüber hinaus gegen die Pandemie ankämpfen, ein Schlag ins Gesicht“, so die Aussage der Jugendvertreter.

Die Grüne-Gemeinderatsfraktion verlegte kurzerhand ihre eigentlich für den Abend angesetzte Fraktionssitzung auf die Straße und erklärte, die sogenannten Spaziergänger stellten keine Auswege aus der Pandemie zur Diskussion. „Erkennbar ist nur ein allgemeiner Corona-Frust, der das Vertrauen in faktenbasiertes Forschen der Wissenschaft und ins abwägende Handeln des demokratischen Staats schleichend untergräbt.“
Auch die SPD, das Forum für Rottweil und die CDU schlossen sich der Menschenkette in Worten oder auch tatsächlich an. „Eigene Recherchen haben ergeben, dass die in Rottweil durchgeführten Montagsspaziergänge von Gruppierungen außerhalb der Stadt organisiert und gelenkt werden“, betonte der CDU-Fraktionsvorsitzende Günter Posselt.
Symbolpunkt Hauptstraße
Die SPD teilte mir: „Wir unterstützen die Menschenkette, weil wir ein Zeichen für Solidarität, Besonnenheit, Verbundenheit und Verantwortung setzen wollen.“ Elke Reichenbach und Peter Bruker verlesen die Solidaritätskundgebungen, und Bruker betonte: „Wir waren lange genug die schweigende Mehrheit.“ Höchste Zeit sei es, die Obere Hauptstraße zurückzuerobern. „Die Symbolik ist einfach zu groß.“
Angesichts der großen Teilnehmerzahl forderte er die Menge auf, einmal die Runde zu drehen: Der innere Kreis ging rechts herum, der äußere die andere Richtung. Das klappte, doch die Polizei fand es nicht gut, also wurde wieder gestoppt. Schließlich, angesichts der Masse, die sich am Friedrichsplatz versammelt hatte, ging es nach unten, die Plakate hochgehalten.
Gitter trennen
Dieselben Absperrgitter, die sonst an der Fasnet die Zuschauer von den Narren trennen, trennte jetzt die Gesellschaft. Auf der sogenannten Spaziergänger-Seite war man der Ansicht, dass Demokratie bedeute, jedem die freie Entscheidung zu überlassen, ob er sich impfen lasse.

Auf der Seite der Menschenkette herrschte die Meinung, dass es ein Ende der Pandemie nur gebe, wenn sich so viele wie möglich impfen lassen und damit Demokratie Solidarität bedeute. Entlang der Absperrgitter wurde teils heftig diskutiert, einer hielt ein Plakat hoch: „Ich bin gesprächsbereit“, stand darauf. Er trug die vorgeschriebene Maske, sein Gegenüber nicht. Überhaupt trugt sie unter den Spaziergängern so gut wie keiner, obwohl das Landratsamt das eigentlich angeordnet hatte.
Eine Machtdemonstration
Die Polizei hielt sich zurück, das Deeskalationsteam war bereit und wirkte schon durch bloße Anwesenheit. Ein unmaskierter, bekannter Rottweiler rannte „Määh“ rufend durch die Demonstration, Ordner und Beamte führten ihn hinaus. Die sogenannten Spaziergänger auf dem Friedrichsplatz jubelten, sangen schließlich „Oh, wie ist das schön“ und kreuzten immer wieder den Friedrichsplatz zwischen hupenden Autos.
Es wirkte ein wenig wie eine Machtdemonstration, offenbar wollte man austesten, wie weit man gehen konnte. Immerhin: Es blieb bei verbalen Attacken.