Auf dem Wohnzimmertisch von Michael Radigk liegt ein Zeitungsbericht vom Oktober 2000 über einen tödlichen Flugzeugabsturz bei Blumberg. Im dichten Nebel war am 24. Oktober nach 17 Uhr ein Kleinflugzeug gegen den dicht bewaldeten Eichberghang geprallt, alle vier Insassen waren sofort tot.
Für den gebürtigen St. Georgener Diakon und Feuerwehrseelsorger war dies ein Schlüsselereignis, „weil dies eine größere Lage war“, wie er selbst schildert. Noch am gleichen Abend kam er vor Ort und begleitete und betreute die Feuerwehrleute.

Es waren Bilder, die unter die Haut gingen und die Einsatzkräfte psychisch noch lange belasteten.
Fast 30 Jahre lang hat sich Michael Radigk als Feuerwehrseelsorger engagiert. Auf der Versammlung des Kreisfeuerwehrverbands Schwarzwald Baar am 24. November in St. Georgen wurde der jetzt 72-Jährige entsprechend gewürdigt und aus seinem Amt verabschiedet.
Eines von nur drei Ehrenmitgliedern
Als Dank ernannte ihn der Verband zum Ehrenmitglied. Das ist etwas Besonderes. Er ist das dritte Ehrenmitglied neben dem früheren St. Georgener Kommandanten und stellvertretenden Kreisbrandmeister Werner Fuchs und dem Ehrenvorsitzenden Manfred Bau.
Zu seinem Ehrenamt als Feuerwehrseelsorge war Michael Radigk nach dem tragischen Busunglück im September 1992 bei Donaueschingen gekommen. Mehr als 20 Tote und mehr als 30 Verletzte waren damals zu beklagen.
Den Verantwortlichen war danach klar geworden, dass sie nach solch belastenden Einsätzen eine Nachsorge für die Rettungskräfte benötigten.
Michael Radigk, der seit 1990 an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen tätig war und 1993 eine Ausbildung zum Diakon begann, wurde gefragt, ob er sich vorstellen könnte, in einem Team für die Nachsorge von Einsatzkräften mitzuarbeiten.
Landesweit der erste Nachsorgedienst
Noch im Jahr 1993 begann der Einsatznachsorgedienst im Schwarzwald-Baar-Kreis mit seiner Arbeit. Es war der erste in ganz Baden-Württemberg.
Um versichert zu sein, musste Radigk sich einer Rettungsorganisation anschließen. Er entschied sich für die Feuerwehr und begann 1994 die Ausbildung zum Truppmann. Für ihn hatte dies einen weiteren Vorteil: „Als ich die Uniform getragen habe, war ich einer von ihnen und als Kollege akzeptiert.“
Verschiedenste Schicksale und Einsätze
Als Feuerwehrseelsorger und später auch als Notfallseelsorger betreute Radigk Menschen nach verschiedensten Schicksalen und Einsätzen. Dazu gehörten schwere Verkehrsunfälle, Suizide, häusliche Unfälle, Arbeitsunfälle, Mord, erfolglose Reanimation sowie das Überbringen von Todesnachrichten mit der Polizei. Und Einsätze, bei denen Feuerwehrleute verletzt wurden oder zu Tode kamen.
Dazu kamen zwei Flugzeugabstürze: Blumberg im Jahr 2000 sowie 2002 Überlingen. In Überlingen betreute Radigk mehrere Tage lang Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerkes (THW).
Friedrich Walz vom Landesverband der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk dankte dem Seelsorger anschließend in einem Schreiben für seine „unkomplizierte und offene Hilfe bei der Verarbeitung der schrecklichen Ereignisse“.
Hilfreicher Glaube
Geholfen hat dem Katholiken sein Glaube. Religion hatte im Elternhaus und im Umfeld einen hohen Stellenwert. 13 Jahre lang war Michael Radigk Ministrant in St. Georgen. Bei seinen Einsätzen als Seelsorger habe er immer gedacht, Gott habe ihn dahin geschickt.

Sein Verständnis des Nachsorgedienstes beschreibt Michael Radigk so: „Mein Ansinnen als Feuerwehrseelsorger oder als Notfall-Seelsorger war immer, die Leute wieder ins Leben zurückzuführen.“
Am meisten berührt hat ihn, wenn Angehörige nach einem Einsatz als Seelsorger gesagt haben, „Danke, dass Sie da waren.“
Ausüben konnte Michael Radigk sein Ehrenamt als Feuerwehr- und Notfallseelsorger nur, weil seine Frau Hannelore, die an der Janusz-Korczak-Schule in Schwenningen unterrichtete, diesen Dienst voll mittrug, weil das „etwas sehr Sinnvolles ist“, wie sie sagt.
Doch wie hat Radigk selbst seine insgesamt rund 1500 Einsätze als Notfallseelsorger selbst verarbeitet? Er ist überzeugt, dass sein Glaube ihm da geholfen habe und erklärt: „Ich habe nie von diesen Dingen und Einsätzen geträumt, sie haben mich nie im Traum verfolgt.“
Feuerwehrchef zollt Respekt
Für seine Arbeit und seinen Einsatz zollen wichtige Wegbegleiter Respekt. „Herr Radigk war für uns eine wertvolle Stütze, weil er die Nachsorge übernommen hat“, schildert Manfred Bau, von 1991 bis 2015 Kreisbrandmeister im Schwarzwald-Baar-Kreis.
Nach Radigks Ausbildung zum Feuerwehr-Truppmann habe er auf Wunsch des Kreisvorstands in jedem weiteren Grundausbildungs-Kurs zwei Stunden zum Thema Nachsorge referiert.
Manfred Pfeffinger, Leiter der Dachorganisation Psychosoziale Notfallversorgung Schwarzwald-Baar, hat Michael Radigk während seiner gesamten Tätigkeit als Feuerwehr- und Notfallseelsorger begleitet.
Aufmerksamer Zuhörer
„Herr Radigk war ein aufmerksamer Zuhörer“, so Pfeffinger. „Er hat es verstanden, die Kameraden nach ihren Einsätzen so zu informieren, dass sie für sich selbst etwas Gutes tun“, um das besser verarbeiten zu können, und „dass sie daraus etwas lernen für spätere Einsätze, auch im Hinblick auf Kameradenhilfe. Und er hat stets die Gruppendynamik mit einbezogen.“
Reinhold Engesser, Vorsitzender des Kreisfeuerwehrverbands Schwarzwald-Baar, erlebte Radigk mehrfach in seiner Amtszeit als Kommandant der Feuerwehr in Blumberg von 1995 bis 2015.
Noch kein Nachfolger in Sicht
Engesser betont: „Er hat keine Mühen gescheut, er hat sich nicht nur um die Angehörigen gekümmert sondern auch um die Feuerwehr-Kameraden, er war immer da, zu jeder Tages- und Nachtzeit.“
Er habe aber auch Ecken und Kanten gehabt, was teilweise zu Unverständnis und Verwunderung geführt habe. Doch: „Für mich war er ein wichtiger Mensch.“ Leider hätten sie noch keinen Nachfolger.