Ein dickes Steak, ein Jägerschnitzel, ein saftiger Schmorbraten in Sahnesoße oder auch nur ein großes Stück Wurst in der Suppe und ein Laib Bauernbrot auf dem Tisch – die unerfüllbaren Träume aus mageren Kriegs- und Nachkriegsjahren wurden Anfang der 50er Jahre so langsam Wirklichkeit. Metzger, Bäcker, Lebensmittelhändler waren wieder im Einsatz. Die Regale in den Geschäften waren wieder gefüllt und in den Metzgereien hingen die leckeren Würste in Reih und Glied an den Haken. Es ging aufwärts.
Der heute 77-jährige Metzgermeister Wilhelm Riesle hat die Entwicklung im Fleischerhandwerk und die steigenden Ansprüche der Bevölkerung von Kind an miterlebt. Und an die erste Fleischwurst nach dem Krieg, da kann sich Wilhelm Riesle heute noch genau erinnern. Es war 1946 in der Wurstküche des elterlichen Betriebes, lacht Metzgermeister Wilhelm Riesle in der Erinnerung, da haben mein Bruder Meinrad und ich eine Stunde lang gewartet, bis die begehrte Wurst endlich fertig war.
Vater Ewald Riesle war noch in Kriegsgefangenschaft und Mutter Mathilde hatte die Metzgerei mit Unterstützung von Metzger Fritz Bächle als Teilhaber wieder eröffnet. Damals war Wilhelm Riesle ein siebenjähriger Knirps, der später als Metzgermeister die Metzgerei, die 1938 von seinen Eltern in der Oberen Straße 14 gegründet wurde und 1952 in die Obere Straße 10 in den „Löwen“ umzog, als Familienbetrieb bis 2006 führte. Dann verpachtete er sie an die Firma Haller.
Vater Ewald Riesle hatte 1952 das bereits anno 1514 erstmals urkundlich erwähnte Gasthaus Löwen mit dem riesigen Saal im Obergeschoss von der Fürstenbergischen Brauerei in Donaueschingen erworben. Ein äußerst mutiger Kraftakt, damals viel diskutiert an den Villinger Stammtischen. Ob das wohl gut geht? Es ging – und zwar erfolgreich, wie sich erweisen sollte. Im „Nebenzimmer“ der Gaststätte richtete Vater Ewald Riesle damals seine Metzgerei ein, in der heute noch Wurst und Fleisch verkauft wird.
Wilhelm Riesle wuchs wie seine jüngeren Geschwister Meinrad und Anita praktisch zwischen Wurstküche, Ladengeschäft und Gasthaus „Löwen“ auf. Das Vieh wurde in Tannheim und Neuhausen gekauft. Und dabei wurde den Bauern im Gegenzug gleich ein Korb Wurst verkauft. Ein Ring Fleischwurst, ein Ring Schwarzwurst, ein Paar Rote, und für Samstag ein Stück Suppenfleisch. Das war Anfang der 50er Jahre in etwa die Bestellung, die Wilhelm Riesle als junger Bub aus der Metzgerei seines Vaters „aufs Land“ auslieferte. Anfangs mit dem Moped, später mit einem Viehanhänger, erinnert sich Riesle. Überhaupt beschränkte sich das Wurstangebot damals hauptsächlich außer Schwarz- und Fleischwurst noch auf Presskopf und Schwartenmagen. Die feinen Pasteten, gefüllte Kalbsbrust, Bierschinken oder andere phantasievollere Wurstkreationen kamen erst später.
Doch mit dem Wirtschaftswunder im Anmarsch stiegen auch die lukullischen Ansprüche. Zum „Weißen Sonntag“ wurden bald Aufschnitt-Platten bestellt. „Die waren der Renner“, lacht Riesle. Und zu Festen wie Weihnachten oder Ostern gab‘s auch schon mal Rollschinken oder Kalbsbrust. Die Villinger genossen es, wieder Fleisch und Wurst, statt wie in Kriegszeiten nur Kartoffel- oder Brotsuppe auf dem Teller zu haben.
Die Zeit der Waldfeste begann, Grillwürste und Steaks in Mengen wurden bei Riesle geordert. Die Metzgerei belieferte bald auch Gasthäuser, Lebensmittel-Großhändler, Krankenhäuser und die großen aufstrebenden Firmen für ihr Kantinen-Essen wie für große Empfänge. Das Geschäft mit lukullischen Delikatessen boomte. Und nicht zuletzt war zum Beispiel der Wurstsalat mit Riesle-Lyoner im legendären „Bistro“ in der Brunnenstraße lange Jahre ein Begriff für deftigen Genuss zum kühlen Bier.
Nächste Generation übernimmt die Metzgerei
Beide Riesle-Brüder hatten eine Lehre als Metzger gemacht, auch kurzzeitig außerhalb Villingens ihre Erfahrungen gesammelt. Doch der Vater war seit seiner Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1948 nach Hause gekommen war, nie mehr ganz gesund. Die Söhne mussten immer wieder nach Hause kommen, weil der Vater oft krank war. Schließlich übernahm Wilhelm Riesle 1966 als verantwortlicher Chef die Metzgerei seines Vaters. Bruder Meinrad zog nach Königsfeld und fand seine Existenz in einer eigenen Metzgerei.
Doch schon die Jahre zuvor hatte Wilhelm Riesle begonnen, den Familienbetrieb erfolgreich zu managen. Die Voraussetzungen veränderten sich stetig. Beibehalten hat Wilhelm Riesle immer, das Vieh aus der Umgebung zu kaufen. Doch während er früher zum Beispiel für sechs Schweine und ein Kalb, die er zum Schlachten benötigte, die Tiere in vier Höfen zusammensammeln musste, hatten die Bauern später bald 20 oder 100 Stück Vieh im Stall und der Einkauf wurde einfacher.
In die Wurstküche zog der Fortschritt ein. Mindestens 30 Lehrlinge hat Wilhelm Riesle ausgebildet, langjährige Mitarbeiter hielten der Metzgerei die Treue, Metzgermeister Walter Weißer konnte zum Beispiel für 40-jährige Mitarbeit ausgezeichnet werden. Moderne Maschinen ermöglichten es, auch große Mengen zu produzieren, auch wenn nach wie vor traditionell hauptsächlich mit Naturgewürzen gearbeitet wurde. Dafür war der Gewölbekeller mit allerlei Spezereien immer gut gefüllt. 5000 Grillwürste in der Stunde quollen da schon mal aus der Füllmaschine und der der Abdrehautomat stoppt nach genau 100 Gramm Brät und ein Clip trennt die Wurst ab. Früher musste jede einzelne Wurst abgeschätzt und von Hand mit Bindfaden abgebunden werden, lacht Riesle.
Besonders stolz war Wilhelm Riesle – und er ist es heute noch – auf seine „Rohrbahn“, die er als erste ihrer Art in Villingen einbauen ließ. An riesigen Haken konnten so die Schweinehälften direkt von der Ladefläche des Transporters in die Wurstküche transportiert werden. Es gibt sie übrigens heute noch, diese Rohrbahn in den hinteren Räumen des „Löwen – zum Anschauen, als Erinnerung. Genauso existiert noch die alte Wurstküche, ebenso der Gewürzkeller in einem traumhaften Gewölbe. Einmal am Tag macht Wilhelm Riesle seinen Rundgang durch die alten Räume, das braucht er für die Seele. Vermieten für andere Zwecke will er die Stätten seines langen Arbeitslebens nicht.
Damals und heute
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In den 50er Jahren 26 Metzger im Städtle
Wilhelm Riesle, der auch 24 Jahre lang Obermeister der Metzgerinnung Schwarzwald-Bodensee war, weiß noch genau, dass es am Anfang seiner Lehre in den 50er Jahren 26 Metzger in Villingen gab. Und jeder Metzger hatte „seine“ Bauern in der Umgebung als Viehlieferanten, weiß Riesle. Heute zählt er im Stadtgebiet noch gerade mal drei selbst produzierende Metzger: Staiger, Behrenbold und Haller (Haller verkauft in Villingen, produziert in Schwenningen). Alteingesessene Metzgernamen wie Ermler, Münzer, Wöhrle, Fleig, Riesle, Vogel, Reich, Paul, Kersten, Reichert, Ganter, Distel und Bär sind verschwunden. Im gesamten Innungsbereich, für den Riesle bis vor vier Jahren als Obermeister verantwortlich zeichnete, waren früher 140 Betriebe registriert, heute sind es noch gerade mal 70.
Oft waren Nachfolgeprobleme Ursache für das Metzger-Sterben. Die hatte auch Riesle. Seine vier Töchter haben sich anderweitig orientiert. Doch er ist trotzdem glücklich mit ihnen, lacht er verschmitzt-zufrieden und ist sehr stolz auf Kinder und Enkel. Seine jüngste Tochter Christiane führt mit Ehemann Paolo Costantini heute erfolgreich das Gasthaus „Löwen“. Viele Jahrzehnte und heute noch als „Metzger Riesle“ ein Begriff in Villingen, genießt Wilhelm Riesle sein Leben als Rentner, spielt für die Enkel den Chauffeur, frönt seiner Tennis-Leidenschaft, und im Mai und September ist er in und um Venedig anzutreffen, wo er seinen Wohnwagen stehen hat. (ms)