VS-Villingen Der Geschichts- und Heimatverein Villingen und die Volkshochschule VS haben sich in einem Podiumsgespräch im kleinen Saal im Theater am Ring die Frage gestellt: Wie haben die Menschen in Villingen und Schwenningen vor 80 Jahren das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt? Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu Ende. Für Villingen und Schwenningen war die Stunde Null bereits am 20. und 21. April 1945.
Rupert Kubon, Vorsitzender des Heimatvereins Villingen, zitierte zur Einführung Tagebuchnotizen von Hermann Riedel, der während des Krieges Beigeordneter der Stadt Villingen war. Riedel ließ in den Tagen im Rathaus zwei Fahnenstangen mir weißen Vorhängen bereitstellen. Es galt, den richtigen Zeitpunkt zu wählen, die weiße Fahne zur Übergabe zu hissen.
„Welche Quellen standen zur Verfügung, wie es in Villingen weiter ging“? fragte Lisa Hahn von der VHS. „Bei meinen Recherchen standen amtliche Mitteilungsblätter auf deutsch und französisch zur Verfügung“, berichtet Ute Schulze vom Stadtarchiv. Darin habe es wichtige Mitteilungen zu Abgaben und Verhaltensregeln für die Bevölkerung gegeben. Im Laufe des Jahres seien Verkehr und Post sowie standesamtliche Nachrichten wieder in Gang gekommen. „Zeitungen gab es erst ab September 1945 wieder und bis dahin erreichte man die Menschen mit Plakaten und Maueranschlägen, die sich mit dem ganz Alltäglichem beschäftigten“, so Schulze: Stromabschaltzeiten, Einschränkungen von Ausgehzeiten und alles, was die französische Militärregierung angeordnet hatte. Viele Materialien dazu befinden sich im Stadtarchiv Villingen und Freiburg.
Aus einer Akte ging hervor, dass man sich im Oktober 1945 mit dem Thema Demokratisierung beschäftigt habe. „Die Militärregierung hatte angeordnet, einen Gemeinderat, damals noch beratender Ausschuss, mit Menschen zu besetzen, die keine nationalsozialistische Vergangenheit hatten“, berichtet Schulze. Die erste Sitzung hatte mit dem französischen Militärgouverneur, dem Landrat und Bürgermeister Bräuning stattgefunden. Unter den Gemeinderäten waren Mitglieder des Zentrums, der SPD sowie der KPD.
Aus Schwenninger Sicht berichtete Annemarie Conradt-Mach vom Heimatverein Schwenningen, die in Militärarchiven Industrieforschung betrieben hatte. „Die Uhren- und Maschinenindustrie war im Zweiten Weltkrieg Rüstungsindustrie“, so Conradt-Mach. Von Kienzle Uhren gebe es noch exzellente Überlieferungen aus der Zeit. „Interessant war, dass die Familie Kienzle in der Zeit des Zusammenbruchs 1945 nicht in Schwenningen war“. Die klugen und reichen Industriellen hätten irgendwo in der Schweiz ein Büro gehabt, um mit dem Ausland weiter Geschäfte machen zu können. Es habe immer Beziehungen zwischen französischen Uhrenfabriken und Kienzle gegeben. Aus Holland seien Fremdarbeiter bei Kienzle beschäftigt gewesen. Insgesamt habe es in Schwenningen 4000 Fremdarbeiter gegeben.
„Der 20. April, als die Franzosen kamen, war ein denkwürdiger Tag für Schwenningen“: Vorausgegangen seien fünf schwere Luftangriffe vom 25. Dezember 1944 bis zum 18. April 1945. „Das waren Situationen, wie man sie heute vom Gaza-Krieg und Ukraine-Krieg hört“, so Conradt-Mach. Aus Weilersbach und Dauchingen seien die Franzosen abends um 20 Uhr nach Schwenningen gezogen und haben das Hauptquartier im Gasthaus „Löwen“ beim Marktplatz aufgeschlagen. Um 24 Uhr sei die Stadt von Bürgermeister Gönnewein übergeben worden. „Nach dem Einmarsch sind einige Hundert Frauen vergewaltigt worden, eine kam zu Tode“, schilderte Conradt-Mach.
Plünderungen hätten stattgefunden, wobei der Firma Kienzle eine Viertelmillion Uhren abhanden gekommen seien. Menschen seien willkürlich festgenommen worden, Ausgangssperren seien eingeführt worden. Die Anweisungen an die Bevölkerung erfolgten durch Lautsprecherdurchsagen aus Militär-Jeeps. Drei Wochen habe es kein Wasser in den Häusern gegeben. „Wasser musste man an Brunnen holen und wer Brot vom Bäcker wollte, musste Wasser mitbringen“. Wie in Villingen wurde im Oktober 1945 wieder eine Verwaltung aufgebaut mit Gönnewein als Bürgermeister sowie Beiräten ohne NS-Vergangenheit. 1949 wurde Gönnewein abgewählt und Hans Kohler neuer Bürgermeister.
Dass es für die Betroffenen von Vergewaltigungen und Plünderung schwer fällt, nicht von einer Befreiung zu sprechen, war für den Politologen Ulrich Eith nachvollziehbar. Jene, die aus Gefängnissen und Konzentrationslagern befreit wurden, haben das anders gesehen. „Die Siegermächte haben anders als nach dem Ersten Weltkrieg dem Westen die Chance gegeben, uns in die europäische Staatenwelt zu integrieren“, so Eith. Die Franzosen, einst Erzfeind, seien bereits gewesen, mit den Deutschen, den Italienern sowie den Beneluxstaaten ein Demokratiestabilisierungsprojekt zu starten. „Wir haben die Chance bekommen, vor allen den Franzosen zu zeigen, dass wir als friedliche Nachbarn leben wollen und haben eine sehr stabile Demokratie entwickelt“, sagt der Politologe.
Mancher unter den über 60 Zuhörern hätte sich neben den Vorträgen Zeitzeugen, die von ihren Erlebnissen berichteten, gewünscht. Kubon verwies auf das hohe Alter von 95 bis 100 Jahren und Reisefähigkeit eventueller Zeitzeugen.
Überraschend meldete sich am Schluss Grete Gundacker zu Wort. Gundacker war neun Jahre alt, als sie das Kriegsende in Donaueschingen miterlebt hat. „Wir, das waren Kinder, alte Männer und Mütter, sind vom Wald aus nach Hause gelaufen, dort, wo heute das Krankenhaus ist“, berichtete Gundacker. Sie seien beschossen, aber nicht getroffen worden. Abends seien die Marokkaner gekommen, hätten geplündert und alles, was ging, mitgenommen. „Ich kann mich noch gut an den Bombentrichter mitten auf der Straße erinnern, an die Ausgangssperren, und dass das Brigachwasser mit Keimen verseucht war“, erzählte die 89-Jährige.