Jeden Morgen das Gleiche. „Zieh deine Schuhe an, wir müssen los.“ Das Kindergartenkind schaut aber lieber aus dem Fenster und betrachtet Bäume und den Himmel. Bei den Eltern steigt spätestens nach der dritten Aufforderung der Puls – die Arbeit wartet, eine Videoschalte, der wichtige Kundentermin. Neuer Versuch.

Zieh! Deine! Schuhe! An!

„Zieh deine Schuhe an, wir sind spät dran.“ Der Ton wird genervter, die Stimmung gereizter. Nach der zehnten Aufforderung (“Zieh! Jetzt! Deine! Schuhe! An!“) fängt das Kind an zu weinen, die Eltern überkommt das schlechte Gewissen und das beklemmende Gefühl, sich wieder einmal wie ein Sklaventreiber benommen zu haben.

Alte Muster durchbrechen

„Kenne ich alles“, sagt Britta Hahn. „Auch das schlechte Gewissen.“ Denn eigentlich, sagt die vierfache Mutter, wollen alle Eltern das Beste für ihre Kinder. Und die meisten wissen auch, dass es nichts bringt, die Kinder permanent anzutreiben, zu meckern, zu schimpfen – und doch tun sie es. Sie selbst hat es jahrelang auch getan und „mühsam lernen müssen“, alte Muster zu durchbrechen.

Das könnte Sie auch interessieren

Heute will Britta Hahn Eltern helfen, es anders zu machen. Zwei Bücher hat die Ärztin und Psychotherapeutin aus Villingen bereits geschrieben. Gerade ist ihr drittes Werk erschienen: „Mama, beruhige dich!“ Darin geht es weniger um klassische Ratgebertipps als um die neurobiologischen Grundlagen, die hinter diesen Verhaltensmustern stecken. „Ein Buch für fortgeschrittene Eltern“, sagt die 64-Jährige. „Für Eltern, die eigentlich alles wissen, die aber trotzdem lernen müssen, wie die Biologie funktioniert.“

Im Gebüsch der Säbelzahntiger

Warum tut man etwas, von dem der Verstand eigentlich genau weiß, dass es nichts bringt? Den Ursachen hierfür geht Britta Hahn in ihrem neuen Buch auf den Grund. Es sind uralte Muster, die wir in uns tragen, auch wenn es im heutigen Alltag längst nicht mehr um das schiere Überleben geht, weil im Gebüsch der Säbelzahntiger lauert.

Illustrationen ergänzen

Eine große Rolle spielt in Britta Hahns Buch die Polyvagaltheorie des amerikanischen Professors für Psychiatrie und Biomedizintechnik, Stephen Porges. Die komplexen neurologischen Zusammenhänge werden im Buch zusätzlich durch Illustrationen der Künstlerin Susanne Meiners veranschaulicht.

„Nur wenn wir uns sozial sicher fühlen, beruhigt sich unser Stresssystem“, sagt Britta Hahn. Das gelte für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Und: „Wenn ich nicht gelernt habe, mich selbst zu beruhigen, kann ich auch nicht auf eine Kooperation des Kindes setzen.“ Der Kampf-Flucht-Modus, für die Steinzeitmenschen einst überlebenswichtig, müsse beruhigt werden. „Je ruhiger ich bin, umso kooperativer verhält sich mein Kind.“ Etwas, das wohl alle Eltern aus Erfahrung wissen: Lässt man sich nicht aus der Ruhe bringen, klappt alles besser. Doch warum schaffen es so viele nicht, die Gelassenheitskarte auszuspielen?

Gehorsam statt Wertschätzung

„Wir haben in der Regel keine Modelle dafür gelernt, Kinder durch ihren Frust zu begleiten“, sagt die in Berlin geborene Medizinerin. Sie selbst ist ein Kind der 50er Jahre. Die Erziehung in Nachkriegsdeutschland war geprägt von Gehorsam, nicht von Wertschätzung. Die vom Zweiten Weltkrieg traumatisierte Elterngeneration war vor allem mit dem Wiederaufbau und sich selbst beschäftigt; Kinder hatten zu funktionieren und sich anzupassen.

Das könnte Sie auch interessieren

Standardwerk des Kinder-Drills

Das Standardwerk für die damalige Elterngeneration: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, geschrieben von der Ärztin Johanna Haarer (1900-1988). Das Buch wurde bis in die 80er Jahre hinein immer wieder veröffentlicht, wenn auch später in entnazifizierter Sprache.

Affenliebe und Haustyrannen

Haarer riet: „Die Überschüttung des Kindes mit Zärtlichkeiten, etwa gar von Dritten, kann verderblich sein und muss auf die Dauer verweichlichen. Eine gewisse Sparsamkeit in diesen Dingen ist der deutschen Mutter und dem deutschen Kinde sicherlich angemessen.“ Durch jegliche „Affenliebe“, so Haarer, ziehe man sich einen kleinen „Haustyrann“ heran, schrieb Haarer in dem Buch, das 1934, fünf Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erstmals erschien.

Die Bindung macht‘s

Auch ihre eigene Mutter war kriegstraumatisiert, weiß Britta Hahn heute. Sie selbst habe erst lernen müssen, feinfühlig auf ihre Kinder einzugehen, sagt die Medizinerin – das schwere Erbe der Generation der in den 50er und 60er Jahren Geborenen. Dabei gehe es nicht darum „nur noch säuselnd durch die Gegend zu laufen“, sagt sie. „Es geht darum, uns selbst zu beruhigen und mit den Kindern in Bindung zu gehen.“

Das könnte Sie auch interessieren

Dass junge Eltern heute auch ohne Wiederaufbau und direktem Nachkriegstrauma unter einem hohen Druck stehen, weiß Britta Hahn aus ihrer Arbeit. „Man tut immer so, als müsste alles linear verlaufen“, sagt sie. Jede vermeintlich zu späte Entwicklungsschritt werde kritisch beäugt. Das Kind läuft mit einem Jahr noch nicht? Vielleicht wäre Physiotherapie angebracht! Es malt mit fünf noch keine Kunstwerke? Vielleicht stimmt etwas mit der Feinmotorik nicht!

Es braucht unverplante Zeit

„Das setzt Eltern unter Stress. Sie wollen möglichst nichts versäumen. Was ist denn, wenn ich zu Hause unwissentlich einen kleinen Mozart habe und ihn nicht fördere?“, nennt Britta Hahn ein Beispiel. Dabei brauche es – das weiß man aus der Hirnforschung – viel Zeit des Nichtstuns. Unverplante Zeiten, die für die Gehirnentwicklung außerordentlich wichtig sind. „Der Mensch ist nicht immer produktiv.“

„Mama, beruhige dich“ von Britta Hahn ist im Junfermann-Verlag erschienen, hat 160 Seiten und kostet 24 Euro. ISBN: 978-3-7495-0186-1