Ihr Ton berührt, ihr schlackenloser Gesang trifft ins Herz. Im schmal geschnittenen, schwarzen Abendkleid steht Dina König in der voll besetzten Basler Predigerkirche. Alle Blicke sind auf sie gerichtet.
Ein Jahr zuvor hat die zierliche Altistin ihren Master of Arts in spezialisierter musikalischer Performance an der renommierten Schola Cantorum Basiliensis abgelegt. Ihren Lebensunterhalt verdient die Freelancerin mit Singen wie bei diesem Konzert mit dem Ensemble Musica Fiorita Ende 2018, das auf Youtube zu sehen ist. Die Karriere läuft gut. „Dina König besitzt eine außergewöhnliche Stimme mit einem ausgesprochen schönen und soliden Brustregister, kraftvoll und doch weich. Zudem ist sie ein großes Bühnentalent“, sagt ihr ehemaliger Basler Gesangslehrer Gerd Türk.
Zum Treffen in einem Warteraum am Aeschenplatz hat die Sängerin ihr Müsli mitgebracht. Über der hellblauen Bluse trägt König eine hochgeschlossene Weste. In den Gesprächspausen wirft sie einen Blick auf ihr Tablet, um nochmals die Straßenbahnverbindungen zu checken. Sie muss aber nicht zu einer Probe. Dina König fährt die Tram!
Um 9 Uhr beginnt ihre Mittelschicht auf der Linie 3 nach Saint Louis. Als Fremdkörper wirkt die 30-jährige in Kasachstan geborene Deutsche im Pausenraum der Basler Verkehrsbetriebe (BVB) in ihrer nüchternen Dienstkleidung nicht. Das liegt auch an ihrer lockeren, völlig unaffektierten Art. Sie mag ihre neuen Kollegen. Man sieht sich hier nicht als Konkurrenten wie in der Musikwelt, sondern pflegt einen ganz normalen, respektvollen Umgang.
Reihenweise Absagen
2020 sollte eigentlich ihr bestes Jahr werden. Sie war für viele spannende Projekte engagiert. Dann folgten die Absagen durch die Coronapandemie. Von heute auf morgen hatte die über viele Jahre alleinerziehende Mutter eines inzwischen zehnjähriges Sohnes keine Einkünfte mehr.
Sie wollte und musste etwas tun. Und wurde auf die Basler Verkehrsbetriebe aufmerksam. Ein sicherer Job, umweltfreundlich, nützlich, mit nur zwei Monaten Ausbildung und rund 5000 Schweizer Franken Einstiegsgehalt. Seit März 2021 arbeitet sie in Vollzeit in drei Schichten auf den neun verschiedenen Linien im 72,9 Kilometer langen Basler Straßenbahnnetz.
Genau wie ihr Lebensgefährte Olivier Picon. Der 37-jährige Hornist hat zwar heute frei, kommt aber trotzdem im Dienstanzug zum Gespräch. Seit drei Jahren sind die beiden ein Paar. Auch sein Leben ist durch den neuen Beruf entspannter geworden. „Ein Konzert ist viel stressiger als eine Straßenbahnfahrt. Wir Musiker sind sehr belastbar und können schnell reagieren, wenn es sein muss. Diese grundsätzliche Fähigkeit hilft uns beiden als Tramfahrer enorm“, erklärt Picon.
Die große Verantwortung belastet sie nicht. Man müsse sich nur an die Regeln halten. In der Musik dagegen sei häufig das Beste noch nicht ausreichend. „Wenn man einen Fehler macht, wird es gleich peinlich“, sagt Picon. „Beim Tramfahren ist nichts peinlich.“

Ein Blick zur Uhr, der Schichtwechsel rückt näher. Noch einmal schnell auf die Toilette, dann stehen wir auch schon an der Haltestelle und warten auf den 42,90 Meter langen Bombardier Flexity. Der Wagen hält, ein kurzes Gespräch mit dem aussteigenden Kollegen, dann setzt sie sich in die Fahrerkabine. Und fährt sanft an in Richtung Saint Louis. Den Kollegen in der entgegenkommenden Bahn grüßt sie freundlich. Und agiert im Führerstand so selbstverständlich und entspannt, als hätte sie nie etwas anderes getan.
Mit der linken Hand betätigt sie den sogenannten Befehlsgeber, mit dem man das Tempo der Straßenbahn regelt. Die rechte ruht auf einer Armlehne mit drei Knöpfen für die Warnglocke, die Schienenbremse und den Sand, der auf die Schienen gespritzt wird, falls es mal etwas rutschiger ist. Ansonsten muss sie Blinker und Türen bedienen und auch die Weichen stellen.
Für zehn Minuten nach Japan
Nach dem Barfüßerplatz steigt es am Kohlenberg an zur Musikakademie Basel, ihrer früheren Ausbildungsstätte. Heute ist es ruhig und die Straßenbahn kommt gut durch. Deshalb zeigt auch die mitlaufende Uhr auf dem Display Grün – bei Rot hätte König Verspätung.
Olivier Picon ist in der für ihn ungewohnten Rolle als Fahrgast mit dabei. Der Franzose gehört zu den besten Instrumentalisten auf dem schwierig zu spielenden Naturhorn und unterrichtete an der Hochschule der Künste Bern. Rund 1000 Konzerte hat Picon in den 15 Jahren seiner Profilaufbahn gegeben. Er war so gut im Geschäft wie wenige seiner freien Kollegen und ist auch mal für ein einziges Konzert, in dem er zehn Minuten spielen musste, nach Japan geflogen worden. „Dafür habe ich mich richtig geschämt.“
Das ständige Gefordertsein mit Reisen, Konzerten, täglichem Üben, Organisation, Erfolgsdruck machte ihm auf Dauer zu schaffen. Nun hat er auf dem Höhepunkt seiner Karriere aufgehört und genießt die 25 Urlaubstage und die soziale Sicherheit, die er im neuen Job erhält. Corona war der Auslöser für diesen Schritt, nicht unbedingt der Grund.
Negative Erfahrungen hat Dina König als Tramfahrerin auch gemacht. „Ich weiß nicht, wie oft ich von Jugendlichen als Schlampe bezeichnet wurde. Aber das perlt an mir ab.“ Den Sexismus, dem sie im Musikbetrieb ausgeliefert war, empfand sie als belastender. Da wollte schon mal ein Dirigent ihren Lippenstift schmecken. Oder sie musste einen Vertrag unterschreiben, in dem sie zum Tragen von hohen Schuhen verpflichtet wurde. Der Applaus fehlt ihr gar nicht, weil sie ohnehin eher die intimen Konzertmomente schätzte.
Im neuen Beruf mag sie es, in der Dämmerung zu fahren und morgens zur Frühschicht ins Depot zu kommen, um die Tram startklar zu machen. „Mir fehlt das gemeinsame Musizieren, gerade mit meinem Vokalensemble.“ Singen tut sie nur noch zuhause, begleitet von ihrem Partner am Klavier oder an der Gitarre.
Die meisten Kollegen hätten Verständnis für ihren radikalen Schritt und bewunderten ihren Mut. Für beide ist die Entscheidung für die Tram endgültig. „Wir sehen keine stabile Zukunft im Musikberuf – weder persönlich noch finanziell“, sagt Dina König. Frustriert wirkt sie dabei nicht.